Begegnung mit dem Dunkel


Unheimlicher als die Geister aber waren die Geschichten über sie: Kunth gab den beiden Jungen Bücher zu lesen, in denen es um Mönche ging, um offene Gräber, Hände, die aus der Tiefe ragten, in der Unterwelt gebraute Elixiere und Séancen, bei denen Tote zu schreckensstarren Zuhörern sprachen.

Solches kam gerade in Mode und war noch so neu, daß keine Gewohnheit gegen das Grauen half. Das sei nötig, erklärte Kunth, die Begegnung mit dem Dunkel sei Teil des Heranwachsens, wer metaphysische Angst nicht kenne, werde nie ein deutscher Mann. Einmal stießen sie auf eine Geschichte über Aguirre den Wahnsinnigen, der seinem König abgeschworen und sich selbst zum Kaiser ernannt hatte. In einer Alptraumfahrt ohnegleichen waren er und seine Männer den Orinoko entlanggefahren, an dessen Ufern das Unterholz so dicht war, daß man nicht an Land gehen konnte. Vögel schrien in den Sprachen ausgestorbener Völker, und wenn man aufblickte, spiegelte der Himmel Städte, deren Architektur offenbarte, daß ihre Erbauer keine Menschen waren. Noch immer waren kaum Forscher in diese Gegend vorgedrungen, und eine verläßliche Karte gab es nicht.
Aber er werde es tun, sagte der jüngere Bruder. Er werde dorthin reisen.
Sicherlich, antwortete der Altere.
Er meine es ernst!
Das sei ihm klar, sagte der Ältere und rief einen Diener, um Tag und Stunde zu bezeugen. Einmal werde man froh sein, diesen Augenblick fixiert zu haben. 

Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt, Seite 21
Roman
Copyright © 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Unendliche Feinheit des Kausalgewebes


Gauß kam auf den Zufall zu sprechen, den Feind allen Wissens, den er immer habe besiegen wollen. Aus der Nähe betrachtet, sehe man hinter jedem Ereignis die unendliche Feinheit des Kausalgewebes. Trete man weit genug zurück, offenbarten sich die großen Muster. Freiheit und Zufall seien eine Frage der mittleren Entfernung, eine Sache des Abstands.

Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt, Seite 13
Roman
Copyright © 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Papierzeug

Der Gendarm verlangte, etwas lauter als zuvor, einen Paß.
Gauß legte den Kopf auf seine Arme und rührte sich nicht. Eugen stieß ihn an, doch ohne Erfolg. Ihm sei es egal, murmelte Gauß, er wolle nach Hause, ihm sei es ganz egal.
Der Gendarm rückte verlegen an seiner Mütze.
Da mischte sich der Mann am Nebentisch ein. Das alles werde enden! Deutschland werde frei sein, und gute Bürger würden unbehelligt leben und reisen, gesund an Körper und Geist, und kein Papierzeug mehr brauchen.
Ungläubig verlangte der Gendarm seinen Ausweis.
Das eben meine er, rief der Mann und kramte in seinen Taschen. Plötzlich sprang er auf, stieß seinen Stuhl um und stürzte hinaus. Der Gendarm starrte ein paar Sekunden auf die offene Tür, bevor er sich faßte und ihm nachlief.
Gauß hob langsam den Kopf. Eugen schlug vor, sofort weiterzufahren.

Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt, Seite 11

Roman
Copyright © 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Deutsche Turnkunst

Seltsam sei es und ungerecht, sagte Gauß, so recht ein Beispiel für die erbärmliche Zufälligkeit der Existenz, daß man in einer bestimmten Zeit geboren und ihr verhaftet sei, ob man wolle oder nicht. Es verschaffe einem einen unziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit und mache einen zum Clown der Zukunft.
Eugen nickte schläfrig.

Sogar ein Verstand wie der seine, sagte Gauß, hätte in frühen Menschheitsaltern oder an den Ufern des Orinoko nichts zu leisten vermocht, wohingegen jeder Dummkopf in zweihundert Jahren sich über ihn lustig machen und absurden Unsinn über seine Person erfinden könne.

Er überlegte, nannte Eugen noch einmal einen Versager und widmete sich dem Buch. Während er las, starrte Eugen angestrengt aus dem Kutschenfenster, um sein vor Kränkung und Wut verzerrtes Gesicht zu verbergen.

In der Deutschen Turnkunst ging es um Gymnastikgeräte. Ausführlich beschrieb der Autor Vorrichtungen, die er sich ausgedacht hatte, damit man auf ihnen herumklimmen könne. Eine nannte er Pferd, eine andere den Balken, wieder eine andere den Bock.

Der Kerl sei von Sinnen, sagte Gauß, öffnete das Fenster und warf das Buch hinaus.

Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt, Seite 9
Roman
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Gedicht auf den Rhein

Oder fast alles. Am Schluss schreibt die pubertierende Motte noch ein Gedicht auf den Rhein: „rhein / du sülze / ach du dumme suppe / stur grummelst du an allem vorbei …“ Sie hatte sich ein Buch gekauft: „Treffen junger Autoren 1993 – Die Gewinnertexte“, auch darin waren viele Gedichte in Kleinschreibung verfasst. Man will beim Lesen schon schwer seufzen. Ohne den letzten Satz wäre das alles vielleicht ganz lustig, aber womöglich auch nicht

Andreas Stichmann: „Loreley“. Rowohlt, Hamburg 2024, 128 Seiten, 24 Euro

Dirk Knipphals Literaturredakteur

Ich denke gerne gut von den Menschen

„Ihr möget Recht haben,“ erwiderte der junge Kaufmann. „Und ich schäme mich, dass ich von den Leuten nur immer das Gemeinere und Unedle denke, während ihr lieber eine schöne Gesinnung unterlegt. Und doch sind die Menschen in der Regel schlecht, habt ihr dies nicht auch gefunden, Alter?“

„Gerade weil ich dies nicht gefunden habe, denke ich gerne gut von den Menschen,“ antwortete dieser. „Es ging mir gerade wie Euch. Ich lebte so in den Tag hinein, hörte viel Schlimmes von den Menschen, musste selbst an mir viel Schlechtes erfahren und fing an, die Menschen alle für schlechte Geschöpfe zu halten. Doch da fiel mir bei, dass Allah, der so gerecht ist als weise, nicht dulden könnte, dass ein so verworfene Geschlecht auf dieser schönen Erde hause. Ich dachte nach über das, was ich gesehen, was ich erlebt hatte, und siehe – ich hatte nur das Böse gezählt und das Gute vergessen. Ich hatte nicht acht gegeben, wenn einer eine Handlung der Barmherzigkeit übte, ich hatte es natürlich gefunden, wenn ganze Familien tugendhaft lebten und gerecht waren. So oft ich aber Böses, Schlechtes hörte, hatte ich es wohl angemerkt in meinem Gedächtnis. Da fing ich an, mit ganz anderen Augen um mich zu schauen. es freute mich, wenn ich das Gute nicht so sparsam Keimen sah, wie ich anfangs dachte, ich bemerkte das Böse weniger, oder es fiel mir nicht so sehr auf, und so lernte ich die Menschen lieben, lernte Gutes von ihnen denken, und habe mich in langen Jahren seltener geirrt, wenn ich von einem Gutes sprach, als wenn ich ihn für geizig oder gemein oder gottlos hielt.“


Wilhelm Hauff
Märchen 
Erschienen bei 
Deutsche Bibliothek in Berlin 
Circa 1815 
Aus dem Abschnitt „der Scheik von Alessandria und seine Sklaven“
Zwischen den Teilen 
„Der junge Engländer“
Und
„Die Geschichte Almansors“

The piper

„I’s gone!“ sighed the Rat, sinking back in his seat again. „So beautiful and strange and new! Since it was to end so soon, I almost wish I had never heard it. For it has roused a longing in me that is pain, and nothing seems worth while but just to hear that sound once more and go on listening to it for ever. No!

There it is again!“ he cried, alert once more. Entranced, he was silent for a long space, spellbound.

„Now it passes on and I begin to lose it,“ he said presently. „O, Mole! the beauty of it! The merry bubble and joy, the thin, clear happy call of the distant piping! Such music I never dreamed of, and the call in it is stronger even than the music is sweet! Row on, Mole, row! For the music and the call must be for us.“ The Mole, greatly wondering, obeyed. „I hear nothing myself,“ he said, „but the wind playing in the reeds and rushes and osiers.“

The Rat never answered, if indeed he heard. Rapt, transported, trembling, he was possessed in all his senses by this new divine thing that caught up his helpless soul and swung and dandled it, a powerless but happy infant in a strong sustaining grasp.

In silence Mole rowed steadily, and soon they came to a point where the river divided, a long backwater branching off to one side. With a slight movement of his head Rat, who had long dropped the rudder-lines, directed the rower to take the backwater. The creeping tide of light gained and gained, and now they could see the colour of the flowers that gemmed the water’s edge.

„Clearer and nearer still,“ cried the Rat joyously.

„Now you must surely hear it! Ah – at last – I see you do!“

Breathless and transfixed the Mole stopped rowing as the liquid run of that glad piping broke on him like a wave, caught him up, and possessed him utterly. He saw the tears on his comrade’s cheeks, and bowed his head and understood. For a space they hung there, brushed by the purple loosestrife that fringed the bank; then the clear imperious summons that marched hand-in-hand with the intoxicating melody imposed its will on Mole, and mechanically he bent to his oars again. And the light grew steadily stronger, but no birds sang as they were wont to do at the approach of dawn; and but for the heavenly music all was marvellously still.

On either side of them, as they glided onwards, the rich meadow-grass seemed that morning of a freshness and a greenness unsurpassable. Never had they noticed the roses so vivid, the willowherb so riotous, the meadow-sweet so odorous and pervading. Then the murmur of the approaching weir began to hold the air, and they felt a consciousness that they were nearing the end, whatever it might be, that surely awaited their expedition.

Kenneth Grahame: The wind in the willows – 1908

always wanting you to do something

„The bank is so crowded nowadays that many people are moving away altogether. O no, it isn’t what it used to be, at all. Otters, kingfishers, dabchicks, moorhens, all of them about all day long and always wanting you to do something – as if a fellow had no business of his own to attend to!“

Kenneth Grahame: The wind in the willows – 1908

„messing – about – in – boats; messing -„

„Nice? It’s the only thing,“ said the Water Rat solemnly, as he leant forward for his stroke. „Believe me, my young friend, there is nothing – absolutely nothing – half so much worth doing as simply messing about in boats. Simply messing,“ he went on dreamily:

„messing – about – in – boats; messing -„

„Look ahead, Rat!“ cried the Mole suddenly.

It was too late. The boat struck the bank full tilt.

The dreamer, the joyous oarsman, lay on his back at the bottom of the boat, his heels in the air.

„- about in boats – or with boats,“ the Rat went on composedly, picking himself up with a pleasant laugh. 

„In or out of ‚em, it doesn’t matter. Nothing seems really to matter, that’s the charm of it.“

„Whether you get away, or whether you don’t; whether you arrive at your destination or whether you reach somewhere else, or whether you never get anywhere at all, you’re always busy, and you never do anything in particular; and when you’ve done it there’s always something else to do, and you can do it if you like, but you’d much better not.“

„Look here! If you’ve really nothing else on hand this morning, supposing we drop down the river together, and have a long day of it?“

The Mole waggled his toes from sheer happiness, spread his chest with a sigh of full contentment, and leaned back blissfully into the soft cushions. „What a day I’m having!“ he said. „Let us start at once!“

Kenneth Grahame: The wind in the willows – 1908