Wichtigtuerei

Sie möchten uns weismachen, daß ihre Vergangenheit nicht verloren ist, daß ihre Erinnerung sich verdichtet, sich markig in Weisheit verwandelt hat. Bequeme Vergangenheit! Vergangenheit im Taschenformat, kleines goldenes Buch voll schöner Grundsätze. „Glauben Sie mir, ich spreche aus Erfahrung, alles, was ich weiß, hat mich das Leben gelehrt.“ Hat das Leben es etwa übernommen, für sie zu denken? Sie erklären das Neue mit dem Alten – und das Alte haben sie mit noch älteren Ereignissen erklärt […]

Jean-Paul Sartre, Der Ekel, 1938, © 1981 by Rowohlt Verlag GmbH, p82

Einladender Komplizenblick

Der Doktor lacht […] Ich lache nicht, ich gehen nicht auf seine Annäherungsversuche ein: also probiert er, immer noch lachend, das schreckliche Feuer seiner Pupillen an mir aus. Wir schauen uns schweigend ein paar Sekunden lang an; er mustert mich, als wäre er kurzsichtig, er ordnet mich ein. In die Kategorie der Spinner? In die der Strolche?

Trotzdem ist er es, der den Kopf abwendet: eine kleine Schlappe vor einem einsamen Typ ohne soziale Bedeutung, das lohnt nicht, erwähnt zu werden, das vergisst man auf der Stelle. […]

Ich schäme mich für Herrn Achille. Wir gehören zu der selben Sorte, wir müssten gegen sie zusammenhalten. Aber er hat mich im Stich gelassen, er ist auf ihre Seite übergelaufen: er glaubt ehrlich daran, an die Erfahrung. Nicht an seine noch an meine. An die des Doktors Rogé. Vorhin fühlte Herr Achille sich komisch, er hatte den Eindruck, ganz allein zu sein; jetzt weiß er. daß es andere von seiner Sorte gegeben hat, viele andere: der Doktor Rogé ist ihnen begegnet […]

Jean-Paul Sartre, Der Ekel, 1938, © 1981 by Rowohlt Verlag GmbH, p80ff

Wieder die Finger

Gleich kommt der Refrain: den liebe ich besonders, und die abrupte Art, mit der er sich vorwärts wirft, wie eine Klippe gegen das Meer. Im Augenblick wird Jazz gespielt; keine Melodie, nur Noten, eine Myriade von kleinen Stößen. Sie kennen keine Ruhe, eine unbeugsame Ordnung lässt sie entstehen und zerstört sie, ohne ihnen ja Muße zu lassen, sich zu besinnen, für sich zu existieren. Sie rennen, sie drängen sich, sie treffen mich in Vorbeieilen mit einem kurzen Schlag und vergehen. Ich würde sie gern aufhalten, aber ich weiß: wenn es mir gelänge, einen von ihnen zu stoppen, bliebe zwischen meinen Fingern nichts weiter als ein ordinärer und schmachtender Ton. Ich muss ihren Tod akzeptieren; ich muss ihn sogar wollen, diesen Tod: ich kenne wenige Eindrücke, die herber und stärker wären.

Jean-Paul Sartre, Der Ekel, 1938, © 1981 by Rowohlt Verlag GmbH

Eine Art Ekel in den Händen

Die Gegenstände, das dürfte einen nicht berühren, denn das lebt ja nicht. Man bedient sich ihrer, man stellt sie wieder an ihren Platz, man lebt mitten unter ihnen: sie sind nützlich, mehr nicht. Aber mich, mich berühren sie, das ist unerträglich. Ich habe Angst, mit ihnen in Kontakt zu kommen, als wären sie lebendige Tiere.

Jean-Paul Sartre, Der Ekel, 1938, © 1981 by Rowohlt Verlag GmbH

Willing and able

Zitat

„Letzteres“, sagte sie. „Das du deiner Mutter nachschlägst, ist nicht weiter verwunderlich. Dein Vater ist ja nicht gerade jemand, der zur Nachahmung inspiriert. Nein, Menschen verwechseln Macht mit Willen, weil die wenigsten auch nur den blassesten Schimmer davon haben, was sie wirklich wollen. Und ohne dieses Wissen bleibt der Wille allein ohnmächtig.“

Richard Russo „Diese gottverdammten Träume“

Den zwölf Aposteln

im Ratskeller zu Bremen in dankbarer Erinnerung.
der Verfasser
im Herbst 1827

Fans von Ziggy Stardust 1937

„Erzähle, erzähle, Jungfer Rose, die Geschichte!“ baten alle; sie aber trank bedeutend viel Wein, damit sie eine glatte Kehle bekam, und hub an: „Anno tausend sechshundert und einige zwanzig, dreißig Jahre war ein großer Krieg in deutschen Landen von wegen des Glaubens; die einen wollten so und die anderen anders, und statt daß sie bei einem Glase Wein die Sache vernünftig besprochen hätten, schlugen sie sich die Schädel ein.“

Phantasien im Bremer Ratskeller. Ein Herbstgeschenk für die Freunde des Weines. von Wilhelm Hauff, illustriert von Alfred Kubin, München und Berlin bei Georg Müller, 1914

Beat it, Bonesy. Don’t let them catch you.

A moment of weakness, that’s what ist was, a last-gasp move in the vile game of Ego—which was the one game everyone loses, that no one can ever win. He paused for a few moments after that, marveling at the depth of his own bitterness, and then let out a long wheezy laugh, bravely mocking himself and the world he loved so much.
from TIMBUKTU by Paul Auster, © 1999

Menschen auf der Straße

„Tagelang hatte ich das Für und Wider einer Flucht gewogen, in schlaflosen Nächten mir das Hirn zermartert, bis ich den Gedanken endgültig aufgab. Es war hoffnungslos, durch ein von den Deutschen besetztes Gebiet unbemerkt zu entwischen. Eine Festnahme auf der Flucht konnte meine Lage nur unendlich verschlimmern. Das endlose Grübeln über diesen Plänen hatte mich nicht nur innerlich zerrüttet, es hatte mich auch körperlich niedergeworfen.
In der Eingebung einer Sekunde hatte ich dann alle die sorgfältig gereiften Vorsätze und Überlegungen im Nu zerrissen und abgetan; ich war über die Mauer gesetzt unter Umständen, weit übler als alles, was ich mir je ausmalen konnte, keine dreißig Schritte von der Zufahrtstraße der Deutschen entfernt, ohne Gefährten und ohne Geld, ohne ein einziges Stück meiner Habe. Dennoch waren alle die Sorgen, die mich Tag und Nacht bedrängten, mit einem Schlag abgeschüttelt.“
Artur Rosenberg: Menschen auf der Straße, Juni – Juli 1940 in Frankreich, erschienen 1946 Wiener Verlag