



»Das stimmt«, erwiderte Jed nach langem Überlegen. »Ich habe industrielle Erzeugnisse schon immer gemocht. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, beispielsweise… eine Wurst zu fotografieren.« Er streckte die Hand nach dem Tisch aus und entschuldigte sich sofort. »Also, Wurst ist sehr gut, das meine ich damit nicht, ich esse gern Wurst … Aber sie zu fotografieren, nein, das nicht. Da sind diese Unregelmäßigkeiten organischen Ursprungs, diese Fettäderchen, die von Scheibe zu Scheibe unterschiedlich sind. Das ist ein bisschen … entmutigend.«Seite 163
Michel Houellebecq: KARTE UND GEBIET
Roman Aus dem Französischen von Uli Wittmann
© 2010 Michel Houellebecq/Flammarion
Die französische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
La carte et le territoire bei Flammarion, Paris. © 2011 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Man kann jahrelang in völliger Isolation arbeiten, das ist sogar die einzige Möglichkeit, wirklich zu arbeiten, aber irgendwann kommt dann ein Moment, in dem man das Bedürfnis hat, seine Arbeit der Welt zu zeigen; nicht so sehr, um deren Urteil einzuholen, sondern um sich selbst der Existenz dieser Arbeit und sogar der eigenen Existenz zu vergewissern, denn innerhalb staatenbildender Arten ist die Individualität nur eine kurz anhaltende Fiktion.Seite 121
Michel Houellebecq: KARTE UND GEBIET
Roman Aus dem Französischen von Uli Wittmann
© 2010 Michel Houellebecq/Flammarion
Die französische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
La carte et le territoire bei Flammarion, Paris. © 2011 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Frauen gehen bei solchen Familiengeschichten eben viel geschickter vor als Männer, das ist ihnen gewissermaßen in die Wiege gelegt, und selbst wenn keine Kinder anwesend sind, geben diese immer einen potentiellen Gesprächsstoff ab, und alte Leute interessieren sich bekanntermaßen für ihre Enkelkinder, sie verbinden das mit den Zyklen der Natur oder so, auf jeden Fall entsteht dabei so etwas wie Rührung in ihrem alten Kopf, der Sohn ist zwar der Tod des Vaters, das steht fest, aber für einen Großvater ist der Enkel eine Art Wiedergeburt oder Revanche, und zumindest für die Dauer eines Weihnachtsessens kann so etwas durchaus genügen.Seite 19
Michel Houellebecq: KARTE UND GEBIET
Roman Aus dem Französischen von Uli Wittmann
© 2010 Michel Houellebecq/Flammarion
Die französische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
La carte et le territoire bei Flammarion, Paris. © 2011 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Wissen Sie«, fügte er noch hinzu, »ich habe immer die widerwärtige, wenn auch sehr überzeugende These verabscheut, dass ein vordergründig uneigennütziges, großzügiges politisches oder soziales Engagement in den meisten Fällen nur eine Kompensation für Probleme privater Art sei.«
Seite 254
Michel Houellebecq: KARTE UND GEBIET
Roman Aus dem Französischen von Uli Wittmann
© 2010 Michel Houellebecq/Flammarion
Die französische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
La carte et le territoire bei Flammarion, Paris. © 2011 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
… schrieb er drei Seiten über das Gefühl des Aufbruchs, die übers Meer sinkende Nacht und die im Dunkel verschwindenden Küstenlichter. Bis zum Morgen stand er neben dem Kapitän und beobachtete ihn beim Navigieren. Dann holte er seinen eigenen Sextanten hervor. Gegen Mittag begann er den Kopf zu schütteln. Nachmittags um vier legte er sein Gerät beiseite und fragte den Kapitän, wieso er so unexakt arbeite.
Er mache das seit dreißig Jahren, sagte der Kapitän.
Bei allem Respekt, sagte Humboldt, das erstaune ihn.
Man tue das doch nicht für die Mathematik, sagte der Kapitän, man wolle übers Meer. Man fahre so ungefähr den Breitengrad entlang, und irgendwann sei man da.
Aber wie könne man leben, fragte Humboldt, reizbar geworden vom Kampf gegen die Übelkeit, wenn einem Genauigkeit nichts bedeute?
Bestens könne man das, sagte der Kapitän. Dies sei übrigens ein freies Schiff. Falls jemandem etwas nicht passe, dürfe er jederzeit von Bord.
Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt, Seite 45
Roman
Copyright © 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Am nächsten Morgen klopfte jemand an seine Tür. Ein Junge stand draußen, sah mit aufmerksamen Augen zu ihm auf und fragte, ob er mitfliegen dürfe.
Mitfahren, sagte Pilâtre. Mit dem Ballon fahre man. Man sage nicht fliegen, sondern fahren. So sei es Sitte unter Ballonleuten.
Welchen Ballonleuten?
Er sei der erste, sagte Pilâtre, und er habe es so verfügt.
Und nein, natürlich könne keiner mitfahren. Er tätschelte ihm die Wange und wollte die Tür schließen.
Das sei sonst nicht seine Art, sagte der Junge und wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab. Aber sein Name sei Gauß, er sei nicht unbekannt, und in Kürze werde er so große Entdeckungen machen wie Isaac Newton. Das sage er nicht aus Eitelkeit, sondern weil die Zeit knapp und es nötig sei, daß er an dem Flug teilnehme. Man sehe doch die Sterne von da oben besser, nicht wahr?
Klarer und nicht verschleiert vom Dunst?
Darauf könne er wetten, sagte Pilâtre.
Deshalb müsse er mit. Er wisse viel über Sterne. Man könne ihn der schärfsten Prüfung unterziehen.
Pilâtre lachte und fragte, wer einem kleinen Mann denn beibringe, so schön zu reden. Er überlegte eine Weile. Na gut, sagte er schließlich, wenn es um die Sterne gehe!
Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt, Seite 64
Roman
Copyright © 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Seltsam sei es und ungerecht, sagte Gauß, so recht ein Beispiel für die erbärmliche Zufälligkeit der Existenz, daß man in einer bestimmten Zeit geboren und ihr verhaftet sei, ob man wolle oder nicht. Es verschaffe einem einen unziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit und mache einen zum Clown der Zukunft.
Eugen nickte schläfrig.
Sogar ein Verstand wie der seine, sagte Gauß, hätte in frühen Menschheitsaltern oder an den Ufern des Orinoko nichts zu leisten vermocht, wohingegen jeder Dummkopf in zweihundert Jahren sich über ihn lustig machen und absurden Unsinn über seine Person erfinden könne.
Er überlegte, nannte Eugen noch einmal einen Versager und widmete sich dem Buch. Während er las, starrte Eugen angestrengt aus dem Kutschenfenster, um sein vor Kränkung und Wut verzerrtes Gesicht zu verbergen.
In der Deutschen Turnkunst ging es um Gymnastikgeräte. Ausführlich beschrieb der Autor Vorrichtungen, die er sich ausgedacht hatte, damit man auf ihnen herumklimmen könne. Eine nannte er Pferd, eine andere den Balken, wieder eine andere den Bock.
Der Kerl sei von Sinnen, sagte Gauß, öffnete das Fenster und warf das Buch hinaus.
Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt, Seite 9
Roman
Copyright © 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg