Die finstere Nacht der Seele ist vorüber


«Ich gedenke nicht, mich für etwas zu rechtfertigen, was keiner Rechtfertigung bedarf. Ich habe getan, was ich mußte, und es hat eben nun einmal so lange gedauert. Jetzt fängt ein neues Kapitel an. Die Dämonen haben sich verzogen, die finstere Nacht der Seele ist vorüber.» Er atmete tief ein, nahm die Hände aus den Taschen und packte mich fest an der Schulter.

Paul Auster
Mr. Vertigo, Seite 127
Roman
Copyright © 1996 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Je lauter du schreist


Sie lachte heiser und lächelte mich an. «Ich geb dir einen Rat für die Zukunft», sagte sie. «Wenn du meinst, ich fahre zu schnell, mach einfach die Augen zu und schrei. Je lauter du schreist, desto mehr Spaß werden wir beide haben.»

Paul Auster
Mr. Vertigo, Seite 117
Roman
Copyright © 1996 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Gaspedal

Um der Hitze zu entflichen, fuhren wir nachmittags meist mit der smaragdgrünen Limousine aufs Land, sausten mit offenen Fenstern die leeren Straßen runter und ließen uns den Fahrtwind von allen Seiten um die Nase pusten. Mrs.

Witherspoon fuhr gerne schnell, und ich habe sie wohl nie glücklicher gesehen, als wenn sie mit dem Fuß das Gaspedal durchtrat: Da lachte sie und trank aus dem silbernen Flachmann, und ihre kurzen roten Haare flatterten wie die Beinchen einer auf den Rücken gefallenen Raupe.

Paul Auster
Mr. Vertigo, Seite 116
Roman
Copyright © 1996 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Keiner sagte ein Wort.

Keiner sagte ein Wort.

Ich ging auf ihn zu, durchquerte das Zimmer und wagte nicht, irgendwo anders hinzusehen als in seine Augen. Dann trat ich vor Meister Yehudi hin, nahm mein Fingerglied von ihm ent-gegen, fiel auf die Knie und verbarg mein Gesicht in seinem Schoß. So blieb ich fast eine Minute lang, und als ich endlich den Mut fand, wieder aufzustehen, rannte ich aus dem Zimmer in die Küche und weiter in die kalte Nacht hinaus – gierig nach Luft, gierig nach Leben unter dem endlosen Meer der Wintersterne.

Paul Auster
Mr. Vertigo, Seite 81
Roman
Copyright © 1996 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Buggy

Seite 22

Wann immer einen die Dinge erschreckten, sei es eine gute Idee, sie zu messen. 

Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt, Seite 131
Roman
Copyright © 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Pink Drink

Seite 168

Denn dass du den Frauen gefällst«, sagte Olga nachdrücklich, »das weißt du doch, wie ich mal annehme. Du bist ein recht hübscher Kerl, aber daran liegt es nicht, Schönheit ist fast nebensächlich. Nein, der Grund ist ein anderer.«

Sag es mir.«

Es ist ganz einfach: Weil du einen sehr intensiven Blick hast. Einen leidenschaftlichen Blick. Und das suchen Frauen mehr als alles andere. Wenn sie im Blick eines Mannes Energie und Leidenschaft entdecken, dann finden sie ihn verführerisch.«

Sie ließ ihn über diese Schlussfolgerung nachdenken, trank einen Schluck Meursault und kostete ihre Vorspeise. »Allerdings«, fuhr sie kurz darauf etwas traurig fort, »merken sie es meistens nicht, wenn sich diese Leidenschaft nicht auf sie bezieht, sondern auf ein künstlerisches Werk … Jedenfalls nicht gleich.«

Michel Houellebecq: KARTE UND GEBIET
Roman Aus dem Französischen von Uli Wittmann
© 2010 Michel Houellebecq/Flammarion
Die französische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
La carte et le territoire bei Flammarion, Paris. © 2011 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Verantwortungslose Junggesellen

Seite 172

Und alle Theorien der Freiheit von Gide bis Sartre sind nur immoralistische Konstrukte, die verantwortungslose Junggesellen ersonnen haben. Wie ich, hatte er hinzugefügt, ehe er seine dritte Flasche chilenischen Wein in Angriff nahm.

Michel Houellebecq: KARTE UND GEBIET
Roman Aus dem Französischen von Uli Wittmann
© 2010 Michel Houellebecq/Flammarion
Die französische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
La carte et le territoire bei Flammarion, Paris. © 2011 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Die Wurst


»Das stimmt«, erwiderte Jed nach langem Überlegen. »Ich habe industrielle Erzeugnisse schon immer gemocht. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, beispielsweise… eine Wurst zu fotografieren.« Er streckte die Hand nach dem Tisch aus und entschuldigte sich sofort. »Also, Wurst ist sehr gut, das meine ich damit nicht, ich esse gern Wurst … Aber sie zu fotografieren, nein, das nicht. Da sind diese Unregelmäßigkeiten organischen Ursprungs, diese Fettäderchen, die von Scheibe zu Scheibe unterschiedlich sind. Das ist ein bisschen … entmutigend.«

Seite 163

Michel Houellebecq: KARTE UND GEBIET
Roman Aus dem Französischen von Uli Wittmann
© 2010 Michel Houellebecq/Flammarion
Die französische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
La carte et le territoire bei Flammarion, Paris. © 2011 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Ein freies Schiff

… schrieb er drei Seiten über das Gefühl des Aufbruchs, die übers Meer sinkende Nacht und die im Dunkel verschwindenden Küstenlichter. Bis zum Morgen stand er neben dem Kapitän und beobachtete ihn beim Navigieren. Dann holte er seinen eigenen Sextanten hervor. Gegen Mittag begann er den Kopf zu schütteln. Nachmittags um vier legte er sein Gerät beiseite und fragte den Kapitän, wieso er so unexakt arbeite.

Er mache das seit dreißig Jahren, sagte der Kapitän.

Bei allem Respekt, sagte Humboldt, das erstaune ihn.

Man tue das doch nicht für die Mathematik, sagte der Kapitän, man wolle übers Meer. Man fahre so ungefähr den Breitengrad entlang, und irgendwann sei man da.

Aber wie könne man leben, fragte Humboldt, reizbar geworden vom Kampf gegen die Übelkeit, wenn einem Genauigkeit nichts bedeute?

Bestens könne man das, sagte der Kapitän. Dies sei übrigens ein freies Schiff. Falls jemandem etwas nicht passe, dürfe er jederzeit von Bord.

Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt, Seite 45
Roman
Copyright © 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg