ICH HABE DIE TATSACHE,

dass mein Vater einen übertriebenen Wert auf Äußerlichkeiten legt, lange schlicht als Eitelkeit abgetan. Und in Teilen ist es das sicher auch. Inzwischen aber glaube ich, dass seine Obsession tiefere Gründe hat.

Wohlgestalt bedeutet für ihn Harmonie, Harmonie wiederum Ordnung, Ordnung bedeutet Orientierung, und Orientierung bedeutet Sicherheit. Sein inneres Gleichgewicht hängt von einem äußeren Gleichgewicht ab. Der Körper meiner Mutter hat in ihm, der ohnehin schon verunsichert war, eine massive zusätzliche Verunsicherung bewirkt.

Bis heute hadert mein Vater mit seiner sozialen Stellung.

Meine Großmutter hat ihm, dem emporgekommenen Bauernkind, die Scham über die ländliche, allzu ländliche Herkunft vererbt.

Gutes Aussehen kann ein Kompensationsmittel für den sozialen Aufsteiger darstellen. Man kennt das aus Märchen wie Der gestiefelte Kater, wo es die Schönheit des Müllersohnes ist, die dafür sorgt, dass die Leute ihm die Rolle des Prinzen abkaufen. Auch der Emporkömmling Julien Sorel aus Stendhals Rot und Schwarz wird als ausnahmslos schön beschrieben. Ebenso Jack Londons schreibender Matrose, Martin Eden.

„Einen Schauspieler seiner selbst«, hat meine Mutter meinen Vater gerne genannt, weil er sein gutes Aussehen und die Wirkung auf andere über alles andere stellte.

Es stimmt, fällt mir auf. Im Grunde spielt mein Vater die ganze Zeit Theater. Nur was für ein Stück ist es, das er da seit so vielen Jahren aufführt? Und woher diese Neigung zum Drama?


Daniela Dröscher
Lügen über meine Mutter
Kiepenheuer & Witsch

SEINE ARBEIT ZU VERLIEREN

ODER OHNE ARBEIT da zu stehen – diese Angst ist mein Vater nie ganz los geworden.

Und das, obwohl er einer Generation angehört, die in einer nie da gewesene materielle Sicherheit lebte. Niemals zuvor hatten Menschen über so viel freie Zeit, Geld und Konsumgüter verfügt.

Mein Vater ist ungemein stolz auf seinen beruflichen Werdegang. Das kapitalistische Pendant zum kommunistischen »Held der Arbeit« ist der »self-made man«, Dahinter steht die Überzeugung, alles aus eigener Kraft geschafft zu haben. Durch eine Mischung aus Talent, Fleiß, Geschick und allenfalls noch etwas Glück.

Die deutsche Nachkriegszeit ist ohne diese Ideologie nicht zu denken. Wiederaufbau, Wohlstand, Wirtschaftswunder. Schuften, Sparen, Emporkommen. In diesem Höher schneller weiter ist mein Vater aufgewachsen.

Wohin das führen soll, wo das Ziel dieses unaufhörlichen Aufstiegs liegt, hat mein Vater lange nicht hinterfragt. Die Armut seiner Eltern stand ihm als zu abschreckendes Beispiel vor Augen. Ich kann die Sehnsucht nach einem besseren Leben gut nachvollziehen. Das Narrativ des »self-made man« aber ist fatal. Denn die Karrieren dieser Männer und Väter basierten natürlich auf der Ausbeutung anderen Gruppe, die im höchsten Maße system-relevant waren, aber nichts oder viel zu wenig verdienten: der Mütter und Frauen und ihren unbezahlten »Sorge«-Tätigkeiten und der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter. 

Insgeheim wusste mein Vater, dass es Unrecht war, dass die einen so wenig oder gar nichts verdienten, und er vergleichsweise viel. Um seinen Besitz vor sich selbst zu rechtfertigen, musste er auf dem Prinzip der Leistung beharren.

Wer viel leistete, sollte auch belohnt werden. Wer arm war, hatte unkluge Entscheidungen getroffen oder arbeitete schlicht nicht genug.

Ganz tief im »self-made man« verborgen schlummert die Psychologie des soldatischen, »gepanzerten« Mannes, der koste was wolle, Grenzen um sich zieht und behauptet.

Später, mit zunehmendem Verdienst, fremdelte mein Vater mit seinen Privilegien. Ehe er sich versah, war er ein Kleinbürger geworden, und damit auf ewig verloren zwischen den Klassen.

Und ich, Hand aufs Herz, habe ich dieses Leistungsmärchen nicht komplett verinnerlicht? Muss nicht auch ich ständig dagegen ankämpfen?

Daniela Dröscher
Lügen über meine Mutter
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