Seite 22
Wann immer einen die Dinge erschreckten, sei es eine gute Idee, sie zu messen.
Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt, Seite 131
Roman
Copyright © 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Archiv der Kategorie: Prosa
Pink Drink
Seite 168
Denn dass du den Frauen gefällst«, sagte Olga nachdrücklich, »das weißt du doch, wie ich mal annehme. Du bist ein recht hübscher Kerl, aber daran liegt es nicht, Schönheit ist fast nebensächlich. Nein, der Grund ist ein anderer.«
Sag es mir.«
Es ist ganz einfach: Weil du einen sehr intensiven Blick hast. Einen leidenschaftlichen Blick. Und das suchen Frauen mehr als alles andere. Wenn sie im Blick eines Mannes Energie und Leidenschaft entdecken, dann finden sie ihn verführerisch.«
Sie ließ ihn über diese Schlussfolgerung nachdenken, trank einen Schluck Meursault und kostete ihre Vorspeise. »Allerdings«, fuhr sie kurz darauf etwas traurig fort, »merken sie es meistens nicht, wenn sich diese Leidenschaft nicht auf sie bezieht, sondern auf ein künstlerisches Werk … Jedenfalls nicht gleich.«
Michel Houellebecq: KARTE UND GEBIET
Roman Aus dem Französischen von Uli Wittmann
© 2010 Michel Houellebecq/Flammarion
Die französische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
La carte et le territoire bei Flammarion, Paris. © 2011 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Verantwortungslose Junggesellen
Seite 172
Und alle Theorien der Freiheit von Gide bis Sartre sind nur immoralistische Konstrukte, die verantwortungslose Junggesellen ersonnen haben. Wie ich, hatte er hinzugefügt, ehe er seine dritte Flasche chilenischen Wein in Angriff nahm.
Michel Houellebecq: KARTE UND GEBIET
Roman Aus dem Französischen von Uli Wittmann
© 2010 Michel Houellebecq/Flammarion
Die französische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
La carte et le territoire bei Flammarion, Paris. © 2011 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Die Wurst
»Das stimmt«, erwiderte Jed nach langem Überlegen. »Ich habe industrielle Erzeugnisse schon immer gemocht. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, beispielsweise… eine Wurst zu fotografieren.« Er streckte die Hand nach dem Tisch aus und entschuldigte sich sofort. »Also, Wurst ist sehr gut, das meine ich damit nicht, ich esse gern Wurst … Aber sie zu fotografieren, nein, das nicht. Da sind diese Unregelmäßigkeiten organischen Ursprungs, diese Fettäderchen, die von Scheibe zu Scheibe unterschiedlich sind. Das ist ein bisschen … entmutigend.«Seite 163
Michel Houellebecq: KARTE UND GEBIET
Roman Aus dem Französischen von Uli Wittmann
© 2010 Michel Houellebecq/Flammarion
Die französische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
La carte et le territoire bei Flammarion, Paris. © 2011 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Orinoko
Erst Tage darauf kam wieder eine Siedlung in Sicht.
Ein vom Schweigen blöd gewordener Missionar begrüßte sie stotternd.
Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt, Seite 131
Roman
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Ein freies Schiff
… schrieb er drei Seiten über das Gefühl des Aufbruchs, die übers Meer sinkende Nacht und die im Dunkel verschwindenden Küstenlichter. Bis zum Morgen stand er neben dem Kapitän und beobachtete ihn beim Navigieren. Dann holte er seinen eigenen Sextanten hervor. Gegen Mittag begann er den Kopf zu schütteln. Nachmittags um vier legte er sein Gerät beiseite und fragte den Kapitän, wieso er so unexakt arbeite.
Er mache das seit dreißig Jahren, sagte der Kapitän.
Bei allem Respekt, sagte Humboldt, das erstaune ihn.
Man tue das doch nicht für die Mathematik, sagte der Kapitän, man wolle übers Meer. Man fahre so ungefähr den Breitengrad entlang, und irgendwann sei man da.
Aber wie könne man leben, fragte Humboldt, reizbar geworden vom Kampf gegen die Übelkeit, wenn einem Genauigkeit nichts bedeute?
Bestens könne man das, sagte der Kapitän. Dies sei übrigens ein freies Schiff. Falls jemandem etwas nicht passe, dürfe er jederzeit von Bord.
Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt, Seite 45
Roman
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Begegnung mit dem Dunkel
Unheimlicher als die Geister aber waren die Geschichten über sie: Kunth gab den beiden Jungen Bücher zu lesen, in denen es um Mönche ging, um offene Gräber, Hände, die aus der Tiefe ragten, in der Unterwelt gebraute Elixiere und Séancen, bei denen Tote zu schreckensstarren Zuhörern sprachen.
Solches kam gerade in Mode und war noch so neu, daß keine Gewohnheit gegen das Grauen half. Das sei nötig, erklärte Kunth, die Begegnung mit dem Dunkel sei Teil des Heranwachsens, wer metaphysische Angst nicht kenne, werde nie ein deutscher Mann. Einmal stießen sie auf eine Geschichte über Aguirre den Wahnsinnigen, der seinem König abgeschworen und sich selbst zum Kaiser ernannt hatte. In einer Alptraumfahrt ohnegleichen waren er und seine Männer den Orinoko entlanggefahren, an dessen Ufern das Unterholz so dicht war, daß man nicht an Land gehen konnte. Vögel schrien in den Sprachen ausgestorbener Völker, und wenn man aufblickte, spiegelte der Himmel Städte, deren Architektur offenbarte, daß ihre Erbauer keine Menschen waren. Noch immer waren kaum Forscher in diese Gegend vorgedrungen, und eine verläßliche Karte gab es nicht.
Aber er werde es tun, sagte der jüngere Bruder. Er werde dorthin reisen.
Sicherlich, antwortete der Altere.
Er meine es ernst!
Das sei ihm klar, sagte der Ältere und rief einen Diener, um Tag und Stunde zu bezeugen. Einmal werde man froh sein, diesen Augenblick fixiert zu haben.Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt, Seite 21
Roman
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Unendliche Feinheit des Kausalgewebes
Gauß kam auf den Zufall zu sprechen, den Feind allen Wissens, den er immer habe besiegen wollen. Aus der Nähe betrachtet, sehe man hinter jedem Ereignis die unendliche Feinheit des Kausalgewebes. Trete man weit genug zurück, offenbarten sich die großen Muster. Freiheit und Zufall seien eine Frage der mittleren Entfernung, eine Sache des Abstands.Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt, Seite 13
Roman
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Papierzeug
Der Gendarm verlangte, etwas lauter als zuvor, einen Paß.
Gauß legte den Kopf auf seine Arme und rührte sich nicht. Eugen stieß ihn an, doch ohne Erfolg. Ihm sei es egal, murmelte Gauß, er wolle nach Hause, ihm sei es ganz egal.
Der Gendarm rückte verlegen an seiner Mütze.
Da mischte sich der Mann am Nebentisch ein. Das alles werde enden! Deutschland werde frei sein, und gute Bürger würden unbehelligt leben und reisen, gesund an Körper und Geist, und kein Papierzeug mehr brauchen.
Ungläubig verlangte der Gendarm seinen Ausweis.
Das eben meine er, rief der Mann und kramte in seinen Taschen. Plötzlich sprang er auf, stieß seinen Stuhl um und stürzte hinaus. Der Gendarm starrte ein paar Sekunden auf die offene Tür, bevor er sich faßte und ihm nachlief.
Gauß hob langsam den Kopf. Eugen schlug vor, sofort weiterzufahren.Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt, Seite 11
Roman
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Deutsche Turnkunst
Seltsam sei es und ungerecht, sagte Gauß, so recht ein Beispiel für die erbärmliche Zufälligkeit der Existenz, daß man in einer bestimmten Zeit geboren und ihr verhaftet sei, ob man wolle oder nicht. Es verschaffe einem einen unziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit und mache einen zum Clown der Zukunft.
Eugen nickte schläfrig.
Sogar ein Verstand wie der seine, sagte Gauß, hätte in frühen Menschheitsaltern oder an den Ufern des Orinoko nichts zu leisten vermocht, wohingegen jeder Dummkopf in zweihundert Jahren sich über ihn lustig machen und absurden Unsinn über seine Person erfinden könne.
Er überlegte, nannte Eugen noch einmal einen Versager und widmete sich dem Buch. Während er las, starrte Eugen angestrengt aus dem Kutschenfenster, um sein vor Kränkung und Wut verzerrtes Gesicht zu verbergen.
In der Deutschen Turnkunst ging es um Gymnastikgeräte. Ausführlich beschrieb der Autor Vorrichtungen, die er sich ausgedacht hatte, damit man auf ihnen herumklimmen könne. Eine nannte er Pferd, eine andere den Balken, wieder eine andere den Bock.
Der Kerl sei von Sinnen, sagte Gauß, öffnete das Fenster und warf das Buch hinaus.
Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt, Seite 9
Roman
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