Der gelbe Terror

„Kauner, ich erkenne Sie nicht wieder. Bitte hören Sie weiter! Das allgemeine Mittel zur Herbeiführung unseres Ziels ist, kurz gesagt: hemmungslose Gewaltanwendung, wo immer es nur angeht. Was ist Gewaltanwendung? Jede Art von Verbrechen. Damit wühle man am Fuße des Baues der bestehenden Ordnung, ohne sich um den Effekt weiter zu kümmern. Nun aber hat man sich um den Effekt zu kümmern. Und das tut man durch ein hinzugefügtes Attentat auf die Gehirne. Der gelbe Terrorist muß das Chaos der Köpfe herstellen, ohne das die direkten Gewalttätigkeiten keine Nachahmung finden, wenigstens nicht in solchen Ausmaß, daß die große Panik beginnt, die am Anfang des allgemeinen gelben Terror stehen wird. Diese Nebentätigkeit, die aber dennoch durchaus essentiell ist, besteht in sexuellen Hemmungslosigkeiten aller Art, um durch Lockerung der geschlechtlichen Urtriebe Entsetzen zu verbreiten und sie zugleich aufzupeitschen. Sie besteht in der systematischen Störung sämtlicher Gewohnheiten der Menschen, um jene Unzufriedenheit und bis zu Wutanfällen sich steigernde Gereiztheit herbeizuführen, von der es nicht mehr weit zur Gewalthandlung ist. Indem man zum Beispiel in Restaurants Stinkbomben legt; in den Cafés die Tische beschmiert, bespuckt; auf der Straße plötzlich einen gellenden Schrei ausstößt; Regenschirme zerschneidet; Häuserwände schweinisch bemalt; falsche Telephongespräche zu Tausenden führt; phantastische Irrlehren verbreitet und nach wenigen Tagen das Gegenteil; anonyme Briefe schreibt, um jede Art persönlicher Beziehungen zu zerstören; kurz, indem man lügt, betrügt, stänkert, verwirrt, entsetzt… Das Feld dieser Tätigkeit ist unüberblickbar groß. Der Haupteffekt aber, neben dem die soeben geschilderte Tätigkeit wahrlich nur eine Nebentä-tigkeit ist, wird dadurch erzeilt, daß man … daß man dem jeweils Ermordeten eine kleine Papierrolle hinters Ohr steckt, auf der zum Beispiel eine religiös-unsittliche Zeichnung zu sehen ist und darunter zu lesen: ,So du nicht wirst wie ein Kindlein, bringt dir kein Kakadu den lange ersehnten Spazierstock.‘

Walter Serner: Der isabelle Hengst
Fünfundzwanzig Kriminalgeschichten, Herausgegeben von Thomas Milch
Copyright © Mai 1983, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
Walter Serner, im Januar 1889 in Karlsbad geboren, in Greifswald zum Dr. jur. promoviert, gehörte zum Kreis der Dadaisten, gab während des Ersten Weltkriegs die Zeitschrift •Sirius‹ und 1919 mit Otto Flake und Tristan Tzara den ›Zeltweg‹ heraus, die letzte dadaistische Veröffentlichung, und gehörte zu den Mitarbeitern an Franz Pfemferts expressionistischer Zeitschrift ›Aktion‹. Ende der zwanziger Jahre lag das siebenbändige Gesamtwerk vor. 1933 wurden Serners Bücher verboten. Seine Spur verliert sich 1942 im KZ Theresienstadt.

Kurts Empfehlung

Seite 90
«Hat er Talent?»
«Angeblich ja, aber Talent ist noch keine Garantie dafür, daß ein Mann seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Im Gegenteil – je begabter ein Mensch ist, desto unwahrscheinlicher wird es, daß er es zu etwas bringt.
«Und daran gibt’s keinen Zweifel?
«Die Wissenschaftler in meiner Fabrik, die Ingenieure, die Motoren und Konstruktionen entwerfen, sind hochbegabt, und trotzdem werden sie nie mehr haben als ein eben auskömmliches Gehalt. Die meisten von ihnen könnten in der Verkaufsabteilung weitaus besser verdienen, aber sie sind viel zu sehr an ihrer Arbeit interessiert, um das auch nur zu erwägen. Ihr Talent stellt für sie praktisch eine Behinderung dar. Sieh dir doch all die mittellosen Künstler an, die verzweifelt ihre Werke feilbieten, und die Musikanten, die auf den Straßen betteln.»
«Und da hast du Peter also verboten, Musik zu studieren?» fragte Fischer herausfordernd.

Seite 189
Beide gehörten zur Truppe, die der berüchtigte Hauptmann Ernst Röhm – unter ständig wechselnden Titeln – befehligte, die sogenannte Sturm-Abteilung von Hitlers NSDAP.
Peter Winter hasste die Nazis fast ebenso heftig wie die Kommunisten.
Die bedenkenlose Art, mit der sie sich Begriffe wie «Freiheit», «Ehre», «Brot» und «Sicherheit» zu eigen machten, war ihm suspekt.

Seite 190
Nach seiner Meinung brachten es nur dumme Menschen fertig, Mängel und Möglichkeiten einer komplexen Welt mit derart verschwommenen, abgedroschenen Phrasen und Schlagworten zu simplifizieren.
In seinem Innern hatte er immer auf ein Wunder gehofft, das ihn wieder in einer wohlgeordneten Welt aufwachen ließ, wo der Kaiser das Regiment führte. Doch allmählich hatte er sich, wenn auch widerstrebend, zu der Überzeugung durchgerungen, daß die neue Verfassung von Weimar demokratische Rahmenbedingungen bot, mit deren Hilfe Deutschland seine einstige Größe und Weltgeltung zurückerlangen könnte.
Trotz seiner Abneigung gegen den Sozialismus war Peter Winter an jenem Abend einer der wenigen im väterlichen Haus – vielleicht in der ganzen Stadt -, der Ebert, den sozialdemokratischen Reichspräsidenten, unterstützte. Deutschland mußte als Rechtsstaat regiert werden, eben deshalb wollte er Jurist werden. Die organisierte Gewalt bei Kommunisten wie Nazis stellte eine Bedrohung von Recht und Ordnung dar, gefährdete den deutschen Mittelstand und damit alles, was Peter lieb und wert war.

Seite 213
Und laß mich dir noch eines sagen – es gibt massenhaft deutsche Politiker, die haargenau wissen, wie man in diesem Pulverfaß den Funken zündet.»
«Redest du von den Nazis?»
«Es gibt andere, aber die Nazis sind die schlimmsten und gefährlichsten Fanatiker. Dieser Hitler ist nach seiner Haftzeit wieder in die Höhe gekommen. Politisch war es das Beste, was ihm passieren konnte. Er ist irgendwo ein Phantast mit Gespür für den spezifisch deutschen Verschnitt von Gefühlsduselei und Härte. Er versteht es, Scharen unzufriedener Menschen aus den verschiedensten Lagern zu beeindrucken. Wollt ihr hören, daß der Generalstab den Krieg verloren hat? Ihr habt eure Stellung verloren? Die hat euch ein Jude weggenommen. Eure Fabrik ist pleite gegangen? Der Drahtzieher war ein Jude, der an dem Konkurs klotzig verdient hat. Sozialisten organisieren einen Streik, der euch nicht paßt? Kommunisten veranstalten Straßenschlachten? Das weiß doch jeder, daß Moskau von Juden beherrscht wird. Sie stimmen nicht zu?
Dann haben Sie sich entweder hinters Licht führen lassen, oder Sie sind selber Jude und an der Weltverschwörung beteiligt.»
«Das mag sich ja für schlichte Wähler gut anhören, aber Herr Hitler wird damit nicht sehr weit kommen, wenn er in die Reichsregierung will.»

Seite 214
«Die Nachwehen des Krieges – Niederlage, Enttäuschung, Hunger. Das legt sich.»
«Wenn ich dir doch nur glauben könnte, Dad. Aber tatsächlich ist dieses Gift unter jungen Menschen weiter verbreitet als in allen anderen Bevölkerungsschichten. Schüler und vor allem Studenten, die für den Kriegsdienst zu jung waren, sind oft verbitterter über die Niederlage als die Frontsoldaten. Die Veteranen wissen im Grunde ihres Herzens, daß die Deutschen auf dem Schlachtfeld besiegt wurden; die Jungen, die es nicht miterlebt haben, glauben bereitwillig an all das Geschwafel von der ‹Dolchstoßlegende›. Und die Jungen sind es auch, die gewalttätig werden. Sie strotzen vor Energie und vor Haß. Sie suchen eine Sache, ein Ziel, und das wird Hitler ihnen liefern.»

Seite 277
ich war nie sehr religiös, sagte Samson. «Meine Mutter war römisch-katholisch, mein Vater Mitglied der anglikanischen Kirche.
Deshalb haben sie sich darauf geeinigt, mich als Agnostiker zu erziehen …. Er lachte kurz auf, als sei er gegen diese Entscheidung seiner Eltern. «Daher kann ich Hitlers religiöse Verfolgung der Juden nicht akzeptieren. Ich vermag nicht zu sehen, was die Nazis sich davon versprechen.
Es handelt sich nicht um eine religiöse Verfolgung, sondern um eine rassische», korrigierte Lottie.
«Den Unterschied müssen Sie mir erklären», bat Samson.
«Judenverfolgungen hatten wir in Europa jahrhundertelang», begann Lottie. «Doch damals endete sie, wenn ein Jude zum christlichen Glauben übertrat. Einen solchen Ausweg bietet Hitler nicht. Er haßt die Juden wegen ihrer Rasse, nicht wegen irgendwelcher Nuancen in ihrem Gottesbegriff.»

Len Deighton: In Treu und Glauben
Roman einer Berliner Familie von 1899 bis 1945
Einzig berechtigte Übersetzung aus dem Englischen von Liselotte Julius. Copyright © 1987 by B. V. Holland Copyright Corporation. Titel des Originals: «Winter» Gesamtdeutsche Rechte beim Scherz Verlag, Bern, München, Wien.

Raserei der Justiz

Das ist die ewige Raserei der Justiz, sie glaubt gerecht zu peitschen und wird selbst gepeitscht von der Politik, heut‘ von dieser, morgen von jener, Macht geht vor Recht, ohnmächtig schlagen Fäuste gegen Eisentüren.

Egon Erwin Kisch: Kriminalistisches Reisebuch, Seite 57
Band 1 aus der Reihe „Berichte aus der Wirklichkeit, herausgegeben von Eduard Trautner
Copyright 1927 © by Verlag Die Schmiede, Berlin
Einbandentwurf von Georg Salter, Berlin

Priviligiert

Die in Polen lebende Publizistin Anne Applebaum hat etwas gesagt, das ich gern ein paar Jahre früher verstanden hätte: „Sie und ich gehören zu den privilegiertesten Menschen auf dem Planeten. Wir haben nicht nur das Recht auf freie Meinungsäußerung, wir können es auch ausüben, wir können politisch engagierte Bürger sein. Es ist absurd, wenn Leute wie wir darüber nachdenken, zu verzweifeln oder aufzugeben.“

Taz 22.2.2025 Peter Unfried

Der deutsche Kriecher

„Eine erniedrigte Gruppe, die ihre Würde wiederherstellen will, verfügt über weit mehr emotionales Gewicht als eine, die nur ihren wirtschaftlichen Vorteil verfolgt“, formuliert der liberale Politiktheoretiker Francis Fukuyama. „Letztlich ist es das innere Gefühl der Würde, das nach Anerkennung drängt.“ Subalterne, also erniedrigte Gruppen kämpfen stets nicht nur um formale Rechte oder materielle Besserstellung, sondern auch um ihren Selbstwert.

Der pseudoliberale deutsche Spießer nimmt dagegen schnell die Bücklingshaltung ein. Er gibt jene Selbstachtung und Würde auf, die andere in prekäreren Positionen entgegen allen Widrigkeiten verteidigen. Man kennt es aus Literatur und Lebenserfahrung, staunt aber dennoch immer wieder aufs Neue.

taz, Kolumne Schlagloch von Robert Misik

Seventies-Buntheit

Wenn man in der Bundesrepublik der Siebzigerjahre aufwuchs, wusste man, dass parallel zur poppigen Afri-Cola-Sinalco-Werbewelt, zur sozialliberalen „Mehr Demokratie wagen“-Koalition und zu den antiautoritären Kinderläden noch ein anderes Deutschland existierte. Im Untergeschoss.

Medienberater machen Werbung für sich, indem sie erklären, wie sie Politikern beibringen, in Interviews keinesfalls auf Fragen zu antworten, sondern ohne Rücksicht auf den Gesprächspartner ihre „Erzählung“ zu „präsentieren“. Alle spielen allen etwas vor und reden auch noch offen darüber.

taz: Tanz die Performanz. Kolumne Die Wahrheit von Hartmut El Kurdi

Berichte aus der Wirklichkeit

Die von der Polizei geschaffene Ruhe und Ordnung ist keine Ruhe und Ordnung, die man wünschen kann, und so leicht für eine Polizeiausstellung gute Kritiken zu haben sind, so starken Zulauf ihr der Sensationshunger verschafft, man sollte dennoch keine Polizeiausstellungen veranstalten, weil unter den Massen der Besucher auch nachdenkliche sein könnten, denen einfällt, daß (selbst) die (beste) Polizei nichts als die Symptome ausrottet, und daß ihre Erfolge teuer bezahlt sind.

Egon Erwin Kisch: Kriminalistisches Reisebuch, Seite 13
Band 1 aus der Reihe „Berichte aus der Wirklichkeit, herausgegeben von Eduard Trautner
Copyright 1927 © by Verlag Die Schmiede, Berlin
Einbandentwurf von Georg Salter, Berlin