Die nächsten elf Jahre lebten wir zusammen wie Mann und Frau. Ich wüßte nicht, wieso ich mich dafür rechtfertigen sollte. Vor langer Zeit war ich so jung gewesen, daß ich ihr Sohn hätte sein können, aber jetzt war ich älter als die meisten Großväter, und wer so alt ist, braucht sich an keine Regeln mehr zu halten. Man tut, wozu man Lust hat, und nimmt sich, was man zum Leben braucht.
Am nächsten Morgen klopfte jemand an seine Tür. Ein Junge stand draußen, sah mit aufmerksamen Augen zu ihm auf und fragte, ob er mitfliegen dürfe.
Mitfahren, sagte Pilâtre. Mit dem Ballon fahre man. Man sage nicht fliegen, sondern fahren. So sei es Sitte unter Ballonleuten.
Welchen Ballonleuten?
Er sei der erste, sagte Pilâtre, und er habe es so verfügt.
Und nein, natürlich könne keiner mitfahren. Er tätschelte ihm die Wange und wollte die Tür schließen.
Das sei sonst nicht seine Art, sagte der Junge und wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab. Aber sein Name sei Gauß, er sei nicht unbekannt, und in Kürze werde er so große Entdeckungen machen wie Isaac Newton. Das sage er nicht aus Eitelkeit, sondern weil die Zeit knapp und es nötig sei, daß er an dem Flug teilnehme. Man sehe doch die Sterne von da oben besser, nicht wahr?
Klarer und nicht verschleiert vom Dunst?
Darauf könne er wetten, sagte Pilâtre.
Deshalb müsse er mit. Er wisse viel über Sterne. Man könne ihn der schärfsten Prüfung unterziehen.
Pilâtre lachte und fragte, wer einem kleinen Mann denn beibringe, so schön zu reden. Er überlegte eine Weile. Na gut, sagte er schließlich, wenn es um die Sterne gehe!
Er schrieb eine Broschüre über die Maul- und Klauenseuche, über die Seele der Hunde und einen Protest gegen den Impfzwang. Er beschäftigte sich mit Okkultismus, Hypnose, Augendiagnostik, er besaß ein Mikroskop und einen Schmelzofen, er glaubte an ein Perpetuum mobile und an künstliches Gold, er las oft im Lexikon und in Fremdwörterbüchern. Er ließ sich kein Fremdwort entgehen, verfolgte jedes bis an seinen Ursprung und kam auf diese Weise zu einem unordentlichen, aber ausgebreiteten Wissen. Seine Frau war manchmal auf ihren gebildeten Mann sehr stolz.
Essays über die Weißen Städte aus dem Jahr 1929, die mit den Worten enden: Auf meinem Weg, der nach Norden führt, in den Herbst, in den Nebel, in die Wälder, sehe ich sie wandern. Sie kommen ohne Schwerter. Aber selbst, wenn sie Waffen hätten, werden sie alles Tödliche ablegen. Hier ist das Leben stärker. Hier ist man nicht leicht bereit, sein Blut zu vergießen. Hier findet man eine Kindheit, seine eigene und die Kindheit Europas. Nirgends wird man so leicht heimisch.
Und selbst wer das Land verläßt, nimmt das Beste mit, das eine Heimat mitgeben kann: das Heimweh. (J.R., Werke III, a. a. O., S. 934).