Kurts Empfehlung

Seite 90
«Hat er Talent?»
«Angeblich ja, aber Talent ist noch keine Garantie dafür, daß ein Mann seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Im Gegenteil – je begabter ein Mensch ist, desto unwahrscheinlicher wird es, daß er es zu etwas bringt.
«Und daran gibt’s keinen Zweifel?
«Die Wissenschaftler in meiner Fabrik, die Ingenieure, die Motoren und Konstruktionen entwerfen, sind hochbegabt, und trotzdem werden sie nie mehr haben als ein eben auskömmliches Gehalt. Die meisten von ihnen könnten in der Verkaufsabteilung weitaus besser verdienen, aber sie sind viel zu sehr an ihrer Arbeit interessiert, um das auch nur zu erwägen. Ihr Talent stellt für sie praktisch eine Behinderung dar. Sieh dir doch all die mittellosen Künstler an, die verzweifelt ihre Werke feilbieten, und die Musikanten, die auf den Straßen betteln.»
«Und da hast du Peter also verboten, Musik zu studieren?» fragte Fischer herausfordernd.

Seite 189
Beide gehörten zur Truppe, die der berüchtigte Hauptmann Ernst Röhm – unter ständig wechselnden Titeln – befehligte, die sogenannte Sturm-Abteilung von Hitlers NSDAP.
Peter Winter hasste die Nazis fast ebenso heftig wie die Kommunisten.
Die bedenkenlose Art, mit der sie sich Begriffe wie «Freiheit», «Ehre», «Brot» und «Sicherheit» zu eigen machten, war ihm suspekt.

Seite 190
Nach seiner Meinung brachten es nur dumme Menschen fertig, Mängel und Möglichkeiten einer komplexen Welt mit derart verschwommenen, abgedroschenen Phrasen und Schlagworten zu simplifizieren.
In seinem Innern hatte er immer auf ein Wunder gehofft, das ihn wieder in einer wohlgeordneten Welt aufwachen ließ, wo der Kaiser das Regiment führte. Doch allmählich hatte er sich, wenn auch widerstrebend, zu der Überzeugung durchgerungen, daß die neue Verfassung von Weimar demokratische Rahmenbedingungen bot, mit deren Hilfe Deutschland seine einstige Größe und Weltgeltung zurückerlangen könnte.
Trotz seiner Abneigung gegen den Sozialismus war Peter Winter an jenem Abend einer der wenigen im väterlichen Haus – vielleicht in der ganzen Stadt -, der Ebert, den sozialdemokratischen Reichspräsidenten, unterstützte. Deutschland mußte als Rechtsstaat regiert werden, eben deshalb wollte er Jurist werden. Die organisierte Gewalt bei Kommunisten wie Nazis stellte eine Bedrohung von Recht und Ordnung dar, gefährdete den deutschen Mittelstand und damit alles, was Peter lieb und wert war.

Seite 213
Und laß mich dir noch eines sagen – es gibt massenhaft deutsche Politiker, die haargenau wissen, wie man in diesem Pulverfaß den Funken zündet.»
«Redest du von den Nazis?»
«Es gibt andere, aber die Nazis sind die schlimmsten und gefährlichsten Fanatiker. Dieser Hitler ist nach seiner Haftzeit wieder in die Höhe gekommen. Politisch war es das Beste, was ihm passieren konnte. Er ist irgendwo ein Phantast mit Gespür für den spezifisch deutschen Verschnitt von Gefühlsduselei und Härte. Er versteht es, Scharen unzufriedener Menschen aus den verschiedensten Lagern zu beeindrucken. Wollt ihr hören, daß der Generalstab den Krieg verloren hat? Ihr habt eure Stellung verloren? Die hat euch ein Jude weggenommen. Eure Fabrik ist pleite gegangen? Der Drahtzieher war ein Jude, der an dem Konkurs klotzig verdient hat. Sozialisten organisieren einen Streik, der euch nicht paßt? Kommunisten veranstalten Straßenschlachten? Das weiß doch jeder, daß Moskau von Juden beherrscht wird. Sie stimmen nicht zu?
Dann haben Sie sich entweder hinters Licht führen lassen, oder Sie sind selber Jude und an der Weltverschwörung beteiligt.»
«Das mag sich ja für schlichte Wähler gut anhören, aber Herr Hitler wird damit nicht sehr weit kommen, wenn er in die Reichsregierung will.»

Seite 214
«Die Nachwehen des Krieges – Niederlage, Enttäuschung, Hunger. Das legt sich.»
«Wenn ich dir doch nur glauben könnte, Dad. Aber tatsächlich ist dieses Gift unter jungen Menschen weiter verbreitet als in allen anderen Bevölkerungsschichten. Schüler und vor allem Studenten, die für den Kriegsdienst zu jung waren, sind oft verbitterter über die Niederlage als die Frontsoldaten. Die Veteranen wissen im Grunde ihres Herzens, daß die Deutschen auf dem Schlachtfeld besiegt wurden; die Jungen, die es nicht miterlebt haben, glauben bereitwillig an all das Geschwafel von der ‹Dolchstoßlegende›. Und die Jungen sind es auch, die gewalttätig werden. Sie strotzen vor Energie und vor Haß. Sie suchen eine Sache, ein Ziel, und das wird Hitler ihnen liefern.»

Seite 277
ich war nie sehr religiös, sagte Samson. «Meine Mutter war römisch-katholisch, mein Vater Mitglied der anglikanischen Kirche.
Deshalb haben sie sich darauf geeinigt, mich als Agnostiker zu erziehen …. Er lachte kurz auf, als sei er gegen diese Entscheidung seiner Eltern. «Daher kann ich Hitlers religiöse Verfolgung der Juden nicht akzeptieren. Ich vermag nicht zu sehen, was die Nazis sich davon versprechen.
Es handelt sich nicht um eine religiöse Verfolgung, sondern um eine rassische», korrigierte Lottie.
«Den Unterschied müssen Sie mir erklären», bat Samson.
«Judenverfolgungen hatten wir in Europa jahrhundertelang», begann Lottie. «Doch damals endete sie, wenn ein Jude zum christlichen Glauben übertrat. Einen solchen Ausweg bietet Hitler nicht. Er haßt die Juden wegen ihrer Rasse, nicht wegen irgendwelcher Nuancen in ihrem Gottesbegriff.»

Len Deighton: In Treu und Glauben
Roman einer Berliner Familie von 1899 bis 1945
Einzig berechtigte Übersetzung aus dem Englischen von Liselotte Julius. Copyright © 1987 by B. V. Holland Copyright Corporation. Titel des Originals: «Winter» Gesamtdeutsche Rechte beim Scherz Verlag, Bern, München, Wien.

Just kids

Robert trusted in the law of empathy, by which he could, by his will, transfer himself into an object or a work of art, and thus influence the outer world. He did not feel redeemed by the work he did.
He did not seek redemption. He sought to see what others did not, the projection of his imagination.

Patti Smith: Just kids, Seite 61
Copyright © by Patti Smith 2010
BLOOMSBURY PAPER BACKS – Bloomsbury Publishing Plc

Zyklen der Natur


Frauen gehen bei solchen Familiengeschichten eben viel geschickter vor als Männer, das ist ihnen gewissermaßen in die Wiege gelegt, und selbst wenn keine Kinder anwesend sind, geben diese immer einen potentiellen Gesprächsstoff ab, und alte Leute interessieren sich bekanntermaßen für ihre Enkelkinder, sie verbinden das mit den Zyklen der Natur oder so, auf jeden Fall entsteht dabei so etwas wie Rührung in ihrem alten Kopf, der Sohn ist zwar der Tod des Vaters, das steht fest, aber für einen Großvater ist der Enkel eine Art Wiedergeburt oder Revanche, und zumindest für die Dauer eines Weihnachtsessens kann so etwas durchaus genügen.

Seite 19

Michel Houellebecq: KARTE UND GEBIET
Roman Aus dem Französischen von Uli Wittmann
© 2010 Michel Houellebecq/Flammarion
Die französische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
La carte et le territoire bei Flammarion, Paris. © 2011 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Deutsche Turnkunst

Seltsam sei es und ungerecht, sagte Gauß, so recht ein Beispiel für die erbärmliche Zufälligkeit der Existenz, daß man in einer bestimmten Zeit geboren und ihr verhaftet sei, ob man wolle oder nicht. Es verschaffe einem einen unziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit und mache einen zum Clown der Zukunft.
Eugen nickte schläfrig.

Sogar ein Verstand wie der seine, sagte Gauß, hätte in frühen Menschheitsaltern oder an den Ufern des Orinoko nichts zu leisten vermocht, wohingegen jeder Dummkopf in zweihundert Jahren sich über ihn lustig machen und absurden Unsinn über seine Person erfinden könne.

Er überlegte, nannte Eugen noch einmal einen Versager und widmete sich dem Buch. Während er las, starrte Eugen angestrengt aus dem Kutschenfenster, um sein vor Kränkung und Wut verzerrtes Gesicht zu verbergen.

In der Deutschen Turnkunst ging es um Gymnastikgeräte. Ausführlich beschrieb der Autor Vorrichtungen, die er sich ausgedacht hatte, damit man auf ihnen herumklimmen könne. Eine nannte er Pferd, eine andere den Balken, wieder eine andere den Bock.

Der Kerl sei von Sinnen, sagte Gauß, öffnete das Fenster und warf das Buch hinaus.

Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt, Seite 9
Roman
Copyright © 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

ICH HABE DIE TATSACHE,

dass mein Vater einen übertriebenen Wert auf Äußerlichkeiten legt, lange schlicht als Eitelkeit abgetan. Und in Teilen ist es das sicher auch. Inzwischen aber glaube ich, dass seine Obsession tiefere Gründe hat.

Wohlgestalt bedeutet für ihn Harmonie, Harmonie wiederum Ordnung, Ordnung bedeutet Orientierung, und Orientierung bedeutet Sicherheit. Sein inneres Gleichgewicht hängt von einem äußeren Gleichgewicht ab. Der Körper meiner Mutter hat in ihm, der ohnehin schon verunsichert war, eine massive zusätzliche Verunsicherung bewirkt.

Bis heute hadert mein Vater mit seiner sozialen Stellung.

Meine Großmutter hat ihm, dem emporgekommenen Bauernkind, die Scham über die ländliche, allzu ländliche Herkunft vererbt.

Gutes Aussehen kann ein Kompensationsmittel für den sozialen Aufsteiger darstellen. Man kennt das aus Märchen wie Der gestiefelte Kater, wo es die Schönheit des Müllersohnes ist, die dafür sorgt, dass die Leute ihm die Rolle des Prinzen abkaufen. Auch der Emporkömmling Julien Sorel aus Stendhals Rot und Schwarz wird als ausnahmslos schön beschrieben. Ebenso Jack Londons schreibender Matrose, Martin Eden.

„Einen Schauspieler seiner selbst«, hat meine Mutter meinen Vater gerne genannt, weil er sein gutes Aussehen und die Wirkung auf andere über alles andere stellte.

Es stimmt, fällt mir auf. Im Grunde spielt mein Vater die ganze Zeit Theater. Nur was für ein Stück ist es, das er da seit so vielen Jahren aufführt? Und woher diese Neigung zum Drama?


Daniela Dröscher
Lügen über meine Mutter
Kiepenheuer & Witsch