Er säte Heimweh für’s ganze Leben

Gleich hinter dem Marktplatz trafen sie die Pferde, wie der Mann gesagt hatte. Nicht weniger als drei Tage brauchten sie, bis sie zur Grenze kamen, denn sie mieden die Eisenbahn. Es erwies sich unterwegs, daß der Begleiter Schemarjahs genau Bescheid im Lande wußte. Er gab es zu erkennen, ohne daß ihn Schemarjah gefragt hätte. Auf die fernen Kirchtürme deutete er und nannte die Dörfer, zu denen sie gehörten. Er nannte die Gehöfte und die Güter und die Namen der Gutsbesitzer. Er zweigte oft von der breiten Straße ab und fand sich auf schmalen Wegen in kürzerer Zeit zurecht. Es war, als wollte er Schemarjah noch schnell mit der Heimat vertraut machen, ehe der junge Mann auszog, eine neue zu suchen. Er säte das Heimweh für’s ganze Leben in das Herz Schemarjahs.

Eine Stunde vor Mitternacht kamen sie zur Grenzschenke. Es war eine stille Nacht. Die Schenke stand in ihr als einziges Haus, ein Haus in der Stille der Nacht, stumm, finster, mit abgedichteten Fenstern, hinter denen kein Leben zu ahnen war. Millionen Grillen umzirpten es unaufhörlich, der wispernde Chor der Nacht. Sonst störte sie keine Stimme. Flach war das Land, der gestirnte Horizont zog einen vollendet runden tiefblauen Kreis darum, der nur im Nordosten durch einen hellen Streifen unterbrochen war, wie ein blauer Ring von einem Stück eingefaßten Silber.
Man roch die ferne Feuchtigkeit der Sümpfe, die sich im Westen ausbreiteten und den langsamen Wind, der sie herübertrug. „Eine schöne echte Sommernacht!“ sagte der Bote Kapturaks. Und zum ersten Mal, seitdem sie zusammen waren, ließ er sich herbei, von seinem Geschäft zu sprechen:

„Man kann in so stillen Nächten nicht immer ohne Schwierigkeiten hinüber. Für unsere Unternehmungen sind Regen nützlicher.“ Er warf eine kleine Angst in Schemarjah. Da die Schenke, vor der sie standen, stumm und geschlossen war, hatte Schemarjah nicht an ihre Bedeutung gedacht, bis ihn die Worte des Begleiters an sein Vorhaben erinnerten.
„Gehen wir hinein!‘ sagte er, wie einer, der die Gefahr nicht länger aufschieben will.
,,Brauchst Dich nicht zu eilen, wir werden lange genug warten müssen!“

Er trat dennoch ans Fenster und klopfte leise an den hölzernen Laden. Die Tür öffnete sich und entließ einen breiten Strom gelben Lichts über die nächtliche Erde. Sie traten ein. Hinter der Theke, genau im Lichtkegel einer Hängelampe, stand der Wirt und nickte ihnen zu, auf dem Fußboden hockten ein paar Männer und würfelten. An einem Tisch saß Kapturak mit einem Mann in Wachtmeisteruniform. Niemand sah auf. Man hörte das Klappern der Würfel und das Ticken der Wanduhr. Schemarjah setzte sich. Sein Begleiter bestellte zu trinken. Schemarjah trank einen Schnaps, er wurde heiß, aber ruhig. Sicherheit fühlte er wie noch nie; er wußte, daß er eine der seltenen Stunden erlebte, in denen der Mensch an seinem Schicksal nicht weniger zu formen hat, als die große Gewalt, die es ihm beschert.

Kurz nachdem die Uhr Mitternacht geschlagen hatte, knallte ein Schuß, hart und scharf, mit einem langsam verrinnenden Echo. Kapturak und der Wachtmeister erhoben sich. Es war das verabredete Zeichen, mit dem der Posten zu verstehen gab, daß die nächtliche Kontrolle des Grenzoffiziers vorbei war. Der Wachtmeister verschwand. Kapturak mahnte die Leute zum Aufbruch. Alle erhoben sich träge, schulterten Bündel und Koffer, die Tür ging auf, sie tropften einzeln in die Nacht hinaus und traten den Weg zur Grenze an. Sie versuchten zu singen, irgend jemand verbot es ihnen, es war Kapturaks Stimme. Man wußte nicht, ob sie aus den vorderen Reihen herkam, aus der Mitte, aus der letzten.

Sie schritten also schweigsam durch das dichte Zirpen der Grillen und das tiefe Blau der Nacht.

Nach einer halben Stunde kommandierte ihnen Kapturaks Stimme: Niederlegen! Sie ließen sich auf den taufeuchten Boden fallen, lagen reglos, preßten die klopfenden Herzen gegen die nasse Erde, Abschied der Herzen von der Heimat. Dann befahl man ihnen aufzustehn. Sie kamen an einen seichten breiten Graben, ein Licht blinkte links von ihnen auf, es war das Licht der Wächterhütte. Sie setzten über den Graben. Pflichtgemäß, aber ohne zu zielen, feuerte hinter ihnen der Posten sein Gewehr ab.
„Wir sind draußen!“
rief eine Stimme.
In diesem Augenblick lichtete sich der Himmel im Osten. Die Männer wandten sich um, zur Heimat, über der noch die Nacht zu liegen schien und kehrten sich wieder dem Tag und der Fremde zu.

Einer begann zu singen, alle fielen ein, singend setzten sie sich in Marsch. Nur Schemarjah sang nicht mit. Er dachte an seine nächste Zukunft (er besaß zwei Rubel); an den Morgen zu Haus.
In zwei Stunden erhob sich daheim der Vater, murmelte ein Gebet, räusperte sich, gurgelte, ging zur Schüssel und verspritzte Wasser. Die Mutter blies in den Samowar. Menuchim lallte irgend etwas in den Morgen hinein, Mirjam kämmte weiße Flaumfedern aus ihrem schwarzen Haar. All dies sah Schemarjah so deutlich, wie er es nie gesehn hatte, als er noch zu Hause gewesen war und selbst ein Bestandteil des heimatlichen Morgens. Er hörte kaum den Gesang der andern, nur seine Füße nahmen den Rhythmus auf und marschierten mit.

Eine Stunde später erblickte er die erste fremde Stadt, den blauen Rauch aus den ersten fleißigen Schornsteinen, einen Mann mit einer gelben Armbinde, der die Ankömmlinge in Empfang nahm. Von einer Turmuhr schlug es sechs.

HIOB – Roman eines einfachen Mannes
von Joseph Roth
Copyright 1930 by Gustav Kiepenheuer Verlag AG., Berlin
Druck der Offizin Haag-Drugulin AG. in Leipzig

Broschüre über den Impfzwang

Er schrieb eine Broschüre über die Maul- und Klauenseuche, über die Seele der Hunde und einen Protest gegen den Impfzwang. Er beschäftigte sich mit Okkultismus, Hypnose, Augendiagnostik, er besaß ein Mikroskop und einen Schmelzofen, er glaubte an ein Perpetuum mobile und an künstliches Gold, er las oft im Lexikon und in Fremdwörterbüchern. Er ließ sich kein Fremdwort entgehen, verfolgte jedes bis an seinen Ursprung und kam auf diese Weise zu einem unordentlichen, aber ausgebreiteten Wissen. Seine Frau war manchmal auf ihren gebildeten Mann sehr stolz.

Perlefter
Joseph Roth
© 1978 Verlag Allert de Lange Amsterdam
und Verlag Kiepenheuer & Witsch Köln
Schutzumschlag und Einband Hannes Jähn
Gesamtherstellung Becker Graphischer Betrieb Kevelaer
ISBN 3 462 01263 0

Gefalle denen mit Geld

In den Kreisen, die Margarete umgaben, wurde Rußland modern. Margarete fing an, Russisch zu lernen. Ihr Lehrer war ein geflüchteter russischer Ingenieur ohne Papiere und ohne Geld. Er sprach gerne von den Grausamkeiten der Bolschewiken, und man kann sagen, daß er davon lebte. Er gefiel allen Menschen, die sich über Revolutionen ärgern. Es ist sehr angenehm, gerade diesen Menschen zu gefallen, denn sie sind es, die Geld haben.

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Joseph Roth
© 1978 Verlag Allert de Lange Amsterdam
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Schutzumschlag und Einband Hannes Jähn
Gesamtherstellung Becker Graphischer Betrieb Kevelaer
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Der bittere und schweigsame Zorn der Tante

Was konnte ihr die massive Fleischmenge Bidaks anhaben? Ihre Bosheit gab ihr tausend Waffen, gegen die Gesundheit und Kraft wehrlos waren. Sie murmelte Flüche, die man kaum hörte, die man fühlte und die deshalb schon wirkten, noch ehe sie sich erfüllten. Sie war immer da, sie erschien, wenn die Kinder jubelten, und erstickte ihre Freude, und sooft jemand lachte, mußte er plötzlich innehalten, und sein Lachen zerbrach in der Mitte, wie ein fröhliches Glas, das plötzlich springt, man weiß nicht, warum.

Nur Leo Bidak verlor wie gesagt seine Heiterkeit nicht. Gegen ihn richtete sich der bittere und schweigsame Zorn der Tante. Beide konnten einander nichts anhaben. Ihre schreckliche Schlechtigkeit war wie ein viel zu dünner Stahldegen gegen den Panzer starken Frohsinns, der Bidak umgab. Sie waren zwei ewige Feinde, die nach natürlichen Gesetzen nichts gegeneinander können, sie waren wie Tag und Nacht, Sommer und Winter, Tod und Leben.

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Joseph Roth
© 1978 Verlag Allert de Lange Amsterdam
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Schutzumschlag und Einband Hannes Jähn
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Gut ausgestattete Körper

Wenn man den Herrn Sedan sah, dachte man nicht an Geschichte. Er sah dick und milde aus, er besaß die sanfte Nachgiebigkeit und herzliche Güte jener Menschen, deren Seelen wohlverpackt und vor jedem Angriff behütet in gut ausgestatteten Körpern liegen wie in sorgfältig gepolsterten Etuis.

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Joseph Roth
© 1978 Verlag Allert de Lange Amsterdam
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Schutzumschlag und Einband Hannes Jähn
Gesamtherstellung Becker Graphischer Betrieb Kevelaer
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Aus dem Nachwort von Friedemann Berger

Essays über die Weißen Städte aus dem Jahr 1929, die mit den Worten enden: Auf meinem Weg, der nach Norden führt, in den Herbst, in den Nebel, in die Wälder, sehe ich sie wandern. Sie kommen ohne Schwerter.
Aber selbst, wenn sie Waffen hätten, werden sie alles Tödliche ablegen. Hier ist das Leben stärker. Hier ist man nicht leicht bereit, sein Blut zu vergießen. Hier findet man eine Kindheit, seine eigene und die Kindheit Europas. Nirgends wird man so leicht heimisch.

Und selbst wer das Land verläßt, nimmt das Beste mit, das eine Heimat mitgeben kann: das Heimweh.
(J.R., Werke III, a. a. O., S. 934).

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Joseph Roth
© 1978 Verlag Allert de Lange Amsterdam
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Schutzumschlag und Einband Hannes Jähn
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Jeder Mann mußte dieses Mädchen ernst nehmen

Aber es scheint, daß die Bildung eines jungen Mädchens seinen Reizen schadet. Denn als Karoline in das Alter kam, das zwar noch nicht mannbar genannt werden kann, aber in dem das Interesse für die Männer zu erwachen hat, erwies es sich, daß sie gar kein Interesse hatte, weder für ihre eigene Erscheinung noch für die Männer. Ja, Karoline trug das knisternde, widerspenstige und aufreizende Haar glatt und zurückgestrichen, und man sah infolgedessen, daß sie eine hohe, weiße, gewölbte Mathematikerstirn hatte und schöne kleine Ohrmuscheln, deren Zartheit verloren ging in Anbetracht der bedeutungsvollen Stirn. Jeder junge Mann bekam Angst vor dieser Stirn. Jeder Mann mußte dieses Mädchen ernst nehmen und konnte sich demzufolge nicht in es verlieben.

Und Karoline studierte wirklich Mathematik und Physik und wurde in irgendeinem wissenschaftlichen Institut Assistentin. Da legte sie Sandalen ohne Absätze an, ein blaues Arbeiterinnenkleid und nahm einen männlichen Regenschirm zur Hand …

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Joseph Roth
© 1978 Verlag Allert de Lange Amsterdam
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Schutzumschlag und Einband Hannes Jähn
Gesamtherstellung Becker Graphischer Betrieb Kevelaer
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Gewinnbringende Ehe

Unversehens war er gewachsen und zur Verlobung reif geworden. Während ich meine kostbaren Jahre mit nutzlosen Gedanken vergeudete, wuchs er in das reife Jünglingsalter und in eine gewinnbringende Ehe hinein. Er war ein prachtvoller Junge, und er erfüllte sein Schicksal musterhaft und zur allgemeinen Zufriedenheit.

Perlefter – Joseph Roth 
© 1978 Verlag Allert de Lange Amsterdam und Verlag Kiepenheuer & Witsch Köln
Schutzumschlag und Einband Hannes Jähn
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ISBN 3 462 01263 0

Mais

… und überall war schönes Wetter. Es regnete selten in diesem Sommer. Solch ein trockener Sommer ist geeignet, alle Menschen, die Geld haben, in gute Laune zu bringen.

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© 1978 Verlag Allert de Lange Amsterdam
und Verlag Kiepenheuer & Witsch Köln
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