Jetzt war ich älter als die meisten Großväter

Die nächsten elf Jahre lebten wir zusammen wie Mann und Frau. Ich wüßte nicht, wieso ich mich dafür rechtfertigen sollte. Vor langer Zeit war ich so jung gewesen, daß ich ihr Sohn hätte sein können, aber jetzt war ich älter als die meisten Großväter, und wer so alt ist, braucht sich an keine Regeln mehr zu halten. Man tut, wozu man Lust hat, und nimmt sich, was man zum Leben braucht.

Paul Auster
Mr. Vertigo, Seite 313
Roman
Copyright © 1996 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Berg en Terblijt

Sie gaben mir meinen Stolz zurück

Diese Träume stellten mein ganzes Leben auf den Kopf. Sie gaben mir meinen Stolz zurück, und danach schämte ich mich nicht mehr, wenn ich an die Vergangenheit zurückdachte. Ich weiß nicht, wie ich das anders sagen soll. Der Meister hatte mir verziehen. Wegen Molly, wegen der Liebe und Trauer, die ich für sie empfunden hatte, hatte er meine Schulden bei ihm gestrichen, und jetzt rief er nach mir und bat mich, seiner zu gedenken. Das alles läßt sich nicht beweisen, aber die Wirkung war unbestreitbar da. Etwas in meinem Innern war fortgewälzt worden, und ich verließ dieses Säuferheim so nüchtern, wie ich noch heute bin.

Paul Auster
Mr. Vertigo, Seite 306
Roman
Copyright © 1996 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Wie irgendeine x-beliebige Arbeiterfrau

Sie hatte nichts Auffälliges, nichts, was sie aus der Menge hervorhob. Wenn man ihr auf der Straße begegnete, sah sie aus wie irgendeine x-beliebige Arbeiterfrau: eine dieser Frauen mit molligen Hüften und breitem Hintern, die sich bloß schminken, wenn sie mal im Restaurant essen gehen. Aber Molly hatte Charakter, und wie, und auf ihre ruhige, bedachtsame Art war sie nicht weniger schlau als alle anderen, die ich gekannt habe. Sie war freundlich; sie war nicht nachtragend; sie hielt zu mir und versuchte nie, einen anderen Menschen aus mir zu machen. Daß sie im Haushalt ein bißchen schlampig war und nicht besonders kochen konnte, störte mich nicht. Schließlich war sie nicht meine Dienerin, sondern meine Frau. Sie war auch der einzige echte Freund, den ich seit der Zeit in Kansas mit Äsop und Mutter Sioux gehabt hatte, und sie war die erste Frau, die ich je geliebt habe.

Paul Auster
Mr. Vertigo, Seite 304
Roman
Copyright © 1996 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Vergiß die guten Zeiten nicht

Seine Hand zitterte, Schweiß strömte ihm von der Stirn, aber sein Blick war noch immer fest und klar. «Vergiß die guten Zeiten nicht», sagte er. «Vergiß nicht, was ich dir beigebracht habe.»

Paul Auster
Mr. Vertigo, Seite 242
Roman
Copyright © 1996 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Von einer Show zur nächsten

Was mich dabei erregte, war das Unvorhersehbare, das Abenteuer, nie zu wissen, was sich von einer Show zur nächsten ergeben würde. Wenn man nur das Motiv hat, geliebt zu werden, sich bei den Leuten einzuschmeicheln, nimmt man schlechte Angewohnheiten an, und schließlich wendet sich das Publikum gelangweilt ab. Man muß sich immer wieder auf die Probe stellen, sein Talent so weit entwickeln, wie man kann. Man tut es für sich selbst, aber am Ende ist es grade dieses Streben nach Höherem, womit man sich bei den Fans am meisten beliebt macht. Es ist paradox. Die Menschen spüren, daß man Risiken für sie eingeht. Sie werden in das Mysterium einbezogen, sie dürfen teilhaben an dem Namenlosen, das einen antreibt, und sobald das geschieht, ist man kein bloßer Darsteller mehr, sondern auf dem besten Weg, ein Star zu werden. Und genau das war ich im Herbst 1928: kurz davor, ein Star zu werden.

Paul Auster
Mr. Vertigo, Seite 152
Roman
Copyright © 1996 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

September Special in Aachen 2024

Man betrinkt sich an der Welt.

Ein abgeschabtes grünes Bändchen, das er auf allen unseren Reisen mit sich führte und das mir am Ende so vertraut wurde wie die Falten und Umrisse seines Gesichts. Es war, man stelle sich vor, in Latein geschrieben, und sein Verfasser hieß Spinoza, ein Detail, das ich auch nach so vielen Jahren nicht vergessen habe. Als ich den Meister fragte, warum er denn immer wieder dieses eine Buch studiere, antwortete er, weil es unmöglich sei, ihm jemals ganz auf den Grund zu kommen. Je tiefer man eindringt, sagte er, desto mehr sieht man, und je mehr man sieht, desto länger braucht man, es zu lesen.

«Bin Zauberbuch», sagte ich. «Es kann nie alle werden.»

«Richtig, Schlingel. Es ist unerschöpflich. Man trinkt den Wein aus, stellt das Glas auf den Tisch, und siehe da, wenn man wieder danach greift, ist es noch immer voll.»

«Und dann ist man stinkbesoffen und hat bloß ein Glas bezahlt.»

«Ich hätte es nicht besser ausdrücken können», sagte er, indem er sich plötzlich von mir abwandte und aus dem Fenster starrte. «Man betrinkt sich an der Welt. An den Rätseln der Welt.»

Paul Auster
Mr. Vertigo, Seite 142
Roman
Copyright © 1996 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

September Special in Aachen, The Invisible Touch

Die finstere Nacht der Seele ist vorüber


«Ich gedenke nicht, mich für etwas zu rechtfertigen, was keiner Rechtfertigung bedarf. Ich habe getan, was ich mußte, und es hat eben nun einmal so lange gedauert. Jetzt fängt ein neues Kapitel an. Die Dämonen haben sich verzogen, die finstere Nacht der Seele ist vorüber.» Er atmete tief ein, nahm die Hände aus den Taschen und packte mich fest an der Schulter.

Paul Auster
Mr. Vertigo, Seite 127
Roman
Copyright © 1996 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Je lauter du schreist


Sie lachte heiser und lächelte mich an. «Ich geb dir einen Rat für die Zukunft», sagte sie. «Wenn du meinst, ich fahre zu schnell, mach einfach die Augen zu und schrei. Je lauter du schreist, desto mehr Spaß werden wir beide haben.»

Paul Auster
Mr. Vertigo, Seite 117
Roman
Copyright © 1996 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Gaspedal

Um der Hitze zu entflichen, fuhren wir nachmittags meist mit der smaragdgrünen Limousine aufs Land, sausten mit offenen Fenstern die leeren Straßen runter und ließen uns den Fahrtwind von allen Seiten um die Nase pusten. Mrs.

Witherspoon fuhr gerne schnell, und ich habe sie wohl nie glücklicher gesehen, als wenn sie mit dem Fuß das Gaspedal durchtrat: Da lachte sie und trank aus dem silbernen Flachmann, und ihre kurzen roten Haare flatterten wie die Beinchen einer auf den Rücken gefallenen Raupe.

Paul Auster
Mr. Vertigo, Seite 116
Roman
Copyright © 1996 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Keiner sagte ein Wort.

Keiner sagte ein Wort.

Ich ging auf ihn zu, durchquerte das Zimmer und wagte nicht, irgendwo anders hinzusehen als in seine Augen. Dann trat ich vor Meister Yehudi hin, nahm mein Fingerglied von ihm ent-gegen, fiel auf die Knie und verbarg mein Gesicht in seinem Schoß. So blieb ich fast eine Minute lang, und als ich endlich den Mut fand, wieder aufzustehen, rannte ich aus dem Zimmer in die Küche und weiter in die kalte Nacht hinaus – gierig nach Luft, gierig nach Leben unter dem endlosen Meer der Wintersterne.

Paul Auster
Mr. Vertigo, Seite 81
Roman
Copyright © 1996 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg