Seite 168
Denn dass du den Frauen gefällst«, sagte Olga nachdrücklich, »das weißt du doch, wie ich mal annehme. Du bist ein recht hübscher Kerl, aber daran liegt es nicht, Schönheit ist fast nebensächlich. Nein, der Grund ist ein anderer.«
Sag es mir.«
Es ist ganz einfach: Weil du einen sehr intensiven Blick hast. Einen leidenschaftlichen Blick. Und das suchen Frauen mehr als alles andere. Wenn sie im Blick eines Mannes Energie und Leidenschaft entdecken, dann finden sie ihn verführerisch.«
Sie ließ ihn über diese Schlussfolgerung nachdenken, trank einen Schluck Meursault und kostete ihre Vorspeise. »Allerdings«, fuhr sie kurz darauf etwas traurig fort, »merken sie es meistens nicht, wenn sich diese Leidenschaft nicht auf sie bezieht, sondern auf ein künstlerisches Werk … Jedenfalls nicht gleich.«
Michel Houellebecq: KARTE UND GEBIET
Roman Aus dem Französischen von Uli Wittmann
© 2010 Michel Houellebecq/Flammarion
Die französische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
La carte et le territoire bei Flammarion, Paris. © 2011 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Verantwortungslose Junggesellen
Seite 172
Und alle Theorien der Freiheit von Gide bis Sartre sind nur immoralistische Konstrukte, die verantwortungslose Junggesellen ersonnen haben. Wie ich, hatte er hinzugefügt, ehe er seine dritte Flasche chilenischen Wein in Angriff nahm.
Michel Houellebecq: KARTE UND GEBIET
Roman Aus dem Französischen von Uli Wittmann
© 2010 Michel Houellebecq/Flammarion
Die französische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
La carte et le territoire bei Flammarion, Paris. © 2011 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Corto Maltese in Gythio
Die Unfähigkeit, sich zu waschen, ist eines der sichersten Anzeichen für eine Depression, erinnerte sich Jed.Seite 158
Michel Houellebecq: KARTE UND GEBIET
Roman Aus dem Französischen von Uli Wittmann
© 2010 Michel Houellebecq/Flammarion
Die französische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
La carte et le territoire bei Flammarion, Paris. © 2011 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Die Wurst
»Das stimmt«, erwiderte Jed nach langem Überlegen. »Ich habe industrielle Erzeugnisse schon immer gemocht. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, beispielsweise… eine Wurst zu fotografieren.« Er streckte die Hand nach dem Tisch aus und entschuldigte sich sofort. »Also, Wurst ist sehr gut, das meine ich damit nicht, ich esse gern Wurst … Aber sie zu fotografieren, nein, das nicht. Da sind diese Unregelmäßigkeiten organischen Ursprungs, diese Fettäderchen, die von Scheibe zu Scheibe unterschiedlich sind. Das ist ein bisschen … entmutigend.«Seite 163
Michel Houellebecq: KARTE UND GEBIET
Roman Aus dem Französischen von Uli Wittmann
© 2010 Michel Houellebecq/Flammarion
Die französische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
La carte et le territoire bei Flammarion, Paris. © 2011 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Strandbar
Man kann jahrelang in völliger Isolation arbeiten, das ist sogar die einzige Möglichkeit, wirklich zu arbeiten, aber irgendwann kommt dann ein Moment, in dem man das Bedürfnis hat, seine Arbeit der Welt zu zeigen; nicht so sehr, um deren Urteil einzuholen, sondern um sich selbst der Existenz dieser Arbeit und sogar der eigenen Existenz zu vergewissern, denn innerhalb staatenbildender Arten ist die Individualität nur eine kurz anhaltende Fiktion.Seite 121
Michel Houellebecq: KARTE UND GEBIET
Roman Aus dem Französischen von Uli Wittmann
© 2010 Michel Houellebecq/Flammarion
Die französische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
La carte et le territoire bei Flammarion, Paris. © 2011 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Mini-Promi
Jed nahm als frischgebackener Mini-Promi ohne Schwierigkeit die seinem neuen Status angemessene Haltung bescheidener Gleichgültigkeit ein, was Georges als Experte für Halbprominente mit einem dankbaren Lächeln würdigte.
Seite 81
Michel Houellebecq: KARTE UND GEBIET
Roman Aus dem Französischen von Uli Wittmann
© 2010 Michel Houellebecq/Flammarion
Die französische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
La carte et le territoire bei Flammarion, Paris. © 2011 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Orinoko
Erst Tage darauf kam wieder eine Siedlung in Sicht.
Ein vom Schweigen blöd gewordener Missionar begrüßte sie stotternd.
Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt, Seite 131
Roman
Copyright © 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Zyklen der Natur
Frauen gehen bei solchen Familiengeschichten eben viel geschickter vor als Männer, das ist ihnen gewissermaßen in die Wiege gelegt, und selbst wenn keine Kinder anwesend sind, geben diese immer einen potentiellen Gesprächsstoff ab, und alte Leute interessieren sich bekanntermaßen für ihre Enkelkinder, sie verbinden das mit den Zyklen der Natur oder so, auf jeden Fall entsteht dabei so etwas wie Rührung in ihrem alten Kopf, der Sohn ist zwar der Tod des Vaters, das steht fest, aber für einen Großvater ist der Enkel eine Art Wiedergeburt oder Revanche, und zumindest für die Dauer eines Weihnachtsessens kann so etwas durchaus genügen.Seite 19
Michel Houellebecq: KARTE UND GEBIET
Roman Aus dem Französischen von Uli Wittmann
© 2010 Michel Houellebecq/Flammarion
Die französische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
La carte et le territoire bei Flammarion, Paris. © 2011 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Kompensation für Probleme privater Art
Wissen Sie«, fügte er noch hinzu, »ich habe immer die widerwärtige, wenn auch sehr überzeugende These verabscheut, dass ein vordergründig uneigennütziges, großzügiges politisches oder soziales Engagement in den meisten Fällen nur eine Kompensation für Probleme privater Art sei.«
Seite 254
Michel Houellebecq: KARTE UND GEBIET
Roman Aus dem Französischen von Uli Wittmann
© 2010 Michel Houellebecq/Flammarion
Die französische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
La carte et le territoire bei Flammarion, Paris. © 2011 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Ein freies Schiff
… schrieb er drei Seiten über das Gefühl des Aufbruchs, die übers Meer sinkende Nacht und die im Dunkel verschwindenden Küstenlichter. Bis zum Morgen stand er neben dem Kapitän und beobachtete ihn beim Navigieren. Dann holte er seinen eigenen Sextanten hervor. Gegen Mittag begann er den Kopf zu schütteln. Nachmittags um vier legte er sein Gerät beiseite und fragte den Kapitän, wieso er so unexakt arbeite.
Er mache das seit dreißig Jahren, sagte der Kapitän.
Bei allem Respekt, sagte Humboldt, das erstaune ihn.
Man tue das doch nicht für die Mathematik, sagte der Kapitän, man wolle übers Meer. Man fahre so ungefähr den Breitengrad entlang, und irgendwann sei man da.
Aber wie könne man leben, fragte Humboldt, reizbar geworden vom Kampf gegen die Übelkeit, wenn einem Genauigkeit nichts bedeute?
Bestens könne man das, sagte der Kapitän. Dies sei übrigens ein freies Schiff. Falls jemandem etwas nicht passe, dürfe er jederzeit von Bord.
Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt, Seite 45
Roman
Copyright © 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg