Tante Frieda

Der Franz hat gesagt, ich soll dableiben, aber er will noch weiter in den Wald gehen. Ich habe gesagt, warum. Es gibt doch jetzt Bier und Würste, und die Musik kommt gleich.
Zeichnung von Olaf Gulbransson in Tante Frieda, von Ludwig ThomaEr hat gesagt, es ist im Wald viel schöner, wenn es still ist, und er mag lieber Vögel hören als die dummen Menschen. Er ist über einen Graben gesprungen und war gleich fort.
Ich habe nachlaufen gewollt, aber da habe ich gedacht, daß es Bier gibt und Würste.
Zeichnung von Olaf Gulbransson in Tante Frieda, von Ludwig ThomaLudwig Thoma: Tante Frieda – Neue Lausbubengeschichten, Erschienen bei Albert Langen, Verlag für Literatur und Kunst, München 1912
Zeichnungen von Olaf Gulbransson

„It seems a shame.“

The others didn’t speak. It was a shame, and there wasn’t a man among them who couldn’t hear the hot whine of guilt all down their backbones. But, as so often happens by that strange alchemy of the soul, the guilt made them arrogant and reckless.
Terry Pratchett, „Sourcery“, © Terry and Lynn Pratchett 1988

Die Himmelfahrt der Galgentoni

Selten habe ich so wüste Nachtlokale gesehen wie die rings um den Prager Gemüsemarkt und Fleischmarkt. [ … ] In vielhundertjährigen Häusern staken diese Kneipen, und jede hatte ihre Geschichte. Unter dem Eichentisch der Schenke „Zur Hölle“, wo immer Betrunkene liegen, lag 1378 Herzog Wenzel von Luxemburg, als Kammerherren eintraten, um ihm den Tod seines Vaters zu melden, des deutschen Kaisers Karl IV. Sie trugen den sinnlos Betrunkenen ins Schloß hinauf und setzten ihn auf den Thron.
Von der größten Zeche, die je im „Grünen Frosch“ gemacht ward, erzählen noch heute Wirt und Stammgäste, als wären sie dabei gewesen. Aber es sind schon 300 Jahre (jetzt eher 400 Jahre) her, seit Scharfrichter Mydlarz hier die zehn Schock Meißner Silberthaler nach dem Tagwerk vertrank, für das er sie verdient hatte: für die Massenhinrichtung der böhmischen Adelsherren.
In der Kaschemme „Bataillon“ gibt es keine Teller, nur Mulden, die in die Tische eingeschnitten sind; in diese Mulden wird aus einem Schlauch die Suppe gespritzt. Die Blechlöffel sind mit Ketten am Tisch befestigt, damit sie der Gast nicht mitnehmen könne.
Hier bezog Dr. Unger, Universitätsdozent für Staatsrecht und Abgeordneter des Landtags, seinen permanenten Aufenthalt, als er erfuhr, daß seine Frau Orgien mit seinen Kollegen feiere. Bevor er sich bewußt zu Tode trank, vermachte er sein Vermögen den neunzig Stammgästen des „Bataillon“. Dafür sollten sie – so stand es im Testament – jeder mit einer Flasche Haferschnaps in der Hand, an seinem Begräbnis teilnehmen, unterwegs auf sein Seelenheil trinken und sein Lieblingslied singen: „Vorbei, vorbei ist alles, vorbei mein Lebensglück …“
Egon Erwin Kisch in Mexico, ca 1941aus „Das tätowierte Portrait“ von Egon Erwin Kisch, © Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig 1987

Im heißen Schatten des Islam

Isabelle Eberhardt, geboren 17.02.1877 als jüngstes von fünf Kindern einer adeligen russischen Emigrantin, stirbt malariakrank in der Nacht vom 20. auf den 21.10.1904 während eines Unwetters in einer Lehmhütte am Flußufer in Aïn Séfra, weil sie sich weigert, das von der Überschwemmung eingeschlossene Haus zu verlassen.
isabelle eberhardt 1897 in tunesischer Tracht mit Fez und DjellabaIsabelle Eberhardt 1897, aus dem Vorwort ihres Buches „Tagwerke“, Verlag: März bei Zweitausendeins, ©1981

„Mai 1904
Weshalb muß man sich gegen die Dummheit verteidigen, obwohl man ihr gar nichts abzugewinnen hat, obwohl man selbst nichts damit zu tun hat? Ich weiß nicht – diese Dinge interessieren mich nicht: mir bleibt die Sonne und mich lockt der Weg. Das wäre schon fast eine ganze Philosophie.
Einmal hatte ich Gelegenheit, aus nächster Nähe zu beobachten, wie in einer Seele, die ich schon weit erhabener glaubte, eine reine, starke Leidenschaft entbrannte, und ich sagte zu meinem Freund: „Sehen Sie sich vor, wenn man glücklich ist, versteht man nichts mehr vom Leid der anderen …“
Er machte sich auf, das Glück zu finden, wie er zumindest glaubte; und ich ging meinen Schicksalsweg. [ … ]
In der einzigen arabischen Straße des Dorfes finde ich die ruhigen Eindrücke vom letzten Fastenmonat Ramadan des vergangenen Jahres wieder, ich fühle mich ‚zu Hause‘.
Ich treffe viele bekannte Gesichter auf den Bänken und den Matten vor dem Cahouadji. Viele freundschaftliche Grüße werden ausgetauscht.
Und obendrein die innige Freude bei dem Gedanken, schon morgen, in der Morgenröte aufzubrechen und all diese Dinge zu verlassen, die mir doch heute Abend so süß und angenehm sind.
Doch wer, außer einem Nomaden, einem Vagabunden, könnte diesen doppelten Genuß verstehen?
Das Herz noch bewegt von allem, was mich eingenommen hatte und nun hinter mir lag, sagte ich mir: die Liebe ist eine Unruhe; man muß es lieben, zu verlassen, aufzugeben, denn die Dinge und die Wesen gewinnen ihre Schönheit erst im nachhinein.“
Isabelle Eberhardt: Im heißen Schatten des Islams
Isabelle Eberhardts Leichnam wird aus dem zerstörten Haus geborgen, 1904Isabelle Eberhardts Leichnam wird aus dem zerstörten Haus geborgen, Oktober 1904
Bilder und Text aus „Sandmeere“, Isabelle Eberhardt, © 1981 März Verlag GmbH, Ausgabe bei Zweitausendeins, aus dem Französischen übertragen von Grete Osterwald

Bauernhaus

„Bei diesem Hause nehme ich Abschied. Lange werde ich kein solches Haus mehr zu sehen bekommen. Denn ich nähere mich dem Alpenpaß, und hier nimmt die nördliche, deutsche Bauart ein Ende, samt deutscher Landschaft und deutscher Sprache.

Wie schön ist es, solche Grenzen zu überschreiten! Der Wanderer ist in vieler Hinsicht ein primitiver Mensch, so wie der Nomade primitiver ist als der Bauer. Die Überwindung der Seßhaftigkeit aber und die Verachtung der Grenzen machen Leute meines Schlages trotzdem zu Wegweisern in die Zukunft. Wenn es viele Menschen gäbe, in denen eine so tiefe Verachtung für Landesgrenzen lebte wie in mir, dann gäbe es keine Kriege und Blockaden mehr.
Es gibt nichts Gehässigeres als Grenzen, nichts Stupideres als Grenzen. Sie sind wie Kanonen, wie Generäle: solange Vernunft, Menschlichkeit und Friede herrscht, spürt man nichts von ihnen und lächelt über sie, – sobald aber Krieg und Wahnsinn ausbricht, werden sie wichtig und heilig. Wie sind sie uns Wanderern in den Kriegsjahren zur Pein und zum Kerker geworden! Der Teufel hole sie!“Zeichnung: Hermann Hesse
„Ich zeichne das Haus in mein Notizbuch, und mein Auge nimmt von deutschem Dach, deutschem Gebälk und Giebel, von mancher Traulichkeit und Heimatlichkeit Abschied. Noch einmal liebe ich all dieses Heimatliche mit verstärkter Innigkeit, weil es zum Abschied ist. Morgen werde ich andere Dächer, andere Häuser lieben. Ich werde nicht, wie es in Liebesbriefen heißt, mein Herz hier zurücklassen. Oh nein, ich werde mein Herz mitnehmen, denn ich brauche es auch drüben über den Bergen, zu jeder Stunde. Denn ich bin ein Nomade, kein Bauer.“
Hermann Hesse: Wanderung
S. Fischer / Verlag / Berlin / 1922

Die elegante Frau

„Als Karoline Neuber, die Reformatorin der deutschen Schauspielkunst, im Jahre 1760 in Laubegast bei Dresden starb, untersagte der Pfarrer aufs strengste bei Ihrem Begräbnis das Öffnen der Kirchentüren, und der Sarg mußte über die Kirchhofsmauer gehoben werden, um ein Plätzchen zu finden. Die Kirche schloß die „Kommödianten“ aus. [ … ]“
Rokokoschauspielerin in Iphigenie auf Tauris - Kolorierter Kupferstich von Gaillard aus 'Galerie des Modes'. Paris, 1780„Die Gagen waren zu jener Zeit nicht hoch. Eine Fille d’Opéra war auf ihre Verehrer angewiesen. Figurantinnen und Ballettmädchen erhielten überhaupt nichts. Sie mußten froh sein, Gelegenheit zu haben, ihre Reize in der Öffentlichkeit zur Schau stellen zu können und dadurch reiche Freunde zu bekommen. Fast alle Theatermädchen fingen so an, und es war von vornherein ausgemacht, dass sie auf Tugend verzichteten.“
Gertrude Aretz, Die Elegante Frau
© 1929 by Grethlein & Co., G.m.b.H. Leipzig

Das Drama der Stunden

Isabelle Eberhardt · Sandmeere · Im heißen Schatten des Islams
„Reisen ist, wenn man nicht denkt, sondern die Abfolge der Dinge vorbeiziehen sieht, wenn sich das eigene Lebensgefühl dem Maß des Raumes einfügt. Die sich langsam entfaltende Monotonie der Landschaft trägt dazu bei, uns Erholung von jenen Falten zu gönnen, die wir angenommen haben; uns mit einem Gefühl von Leichtigkeit und Ruhe zu durchdringen, das dem wie im Dampfbad transportierten, im Fieber liegenden Reisenden nicht zuteil werden kann. Beim ruhigen Schritt der vor Hitze ermatteten Pferde bewahren die geringsten Zufälligkeiten des Weges in meinen Augen ihre bildhafte Schönheit. Es sind keine aufgeregten Situationen; es ist ein ruhiger, lebendiger Geisteszustand, der einst allen menschlichen Rassen eigen war und sich heute noch, ganz in unserer Nähe, im Blut der Nomaden verewigt.“
“Sandmeere”, Band „Im heißen Schatten des Islam“ von Isabelle Eberhardt, 1904, © 1981 März Verlag GmbH, Ausgabe bei Zweitausendeins, aus dem Französischen übertragen von Grete Osterwald
Zeichnung einer Koubba von Isabelle Eberhardt, ca 1904

Ballon fahren

Flamme Gasbrenner HeissluftballonEs fühlt sich nicht so sehr nach Fahren an, das Ballon-fahren. Aber auch nicht nach Fliegen. Eher nach Schweben … Schön! Unser Pilot war Arne, der uns sicher hoch und auch wieder runter gebracht hat. Danke dafür! Deinen „kleinen“ Ballon fanden wir ganz schön groß.
Hinterher wird schön langsam die Luft aus dem ballon gedrückt.

Reisende Spinne

Spinne mit grünem Körper auf MotorradtachoEntdeckt habe ich den blinden Passagier bei der Ausfahrt aus Gavi. Während wir essen waren, hat diese Spinne wohl beschlossen, dass zwischen Tacho und Drehzahlanzeige ein guter Platz zum Mitreisen wäre. Und das war es auch, sie ist sicher in Alessandria angekommen. Obwohl sie sich nicht in die Kurven gelegt hat. Mehr so zusammengekauert, wenn der Fahrtwind hinter die Windschutzscheibe kam.
Ich glaube, es ist eine Araniella alpica.
Hat sie gewußt, wohin die Reise geht? Daß es überhaupt auf die Reise geht? Hat sie ein neues Leben in einer neuen Stadt beginnen wollen? Oder reist sie weiter in die Welt hinein? Genau genommen habe ich sie nicht absteigen sehen. Vielleicht wohnt sie jetzt in unserer Garage? Die muss sie sich dann wohl mit der Rennspinne teilen, die auf der Garagentür wohnt, und die jedes mal, wenn ich die Tür benutze, in Sicherheit hinter den Türbeschlag sprintet.