Hasskommentar

Patrice schaltet das Radio und den Computer an. Wie jeden Morgen. Auch wenn es ihn verrückt macht. Als er in den Achtzigern angefangen hat, die Zeitung zu kaufen und Radio zu hören, war es anders. Es gab Aufreger, klar, aber auch Journalisten, die er gerne las oder hörte. Sein Verhältnis zu den Medien bestand nicht ausschliesslich aus Misstrauen und Feindseligkeit. Die beschissenen Kommentare über den Fall der Mauer, den Tienanmenplatz oder Scorsese, der Christus filmte, gab man am Tresen von sich – unter Leuten, die da sind, sich sehen, antworten und streiten. Man erzählte nicht nur Dummheiten, aus Wut über die eigene Anonymität, weil man dazu verdammt ist, größtmöglichen Schwachsinn von sich zu geben, und weil man auf das ohrenbetäubende Schweigen der eigenen Ohnmacht zurückgeworfen ist. Heute würde er gerne Ordnung schaffen, aber er kriegt es nicht hin. Er schlägt Zeitungen auf, die er damals nie gekauft hätte. Irgendwas schleicht sich mit vergifteten Tentakeln in seinen Kopf, er kann es nicht analysieren, es weckt nur Wut. Die Lust, zuzuschlagen, egal gegen wen, krankhaften Ekel. Er hat keine Lust, in den Chor der Hasskommentare einzustimmen, keine Lust, ein Blog aufzumachen, um sich auszukotzen, er hat keine Lust, dem Scheißestrom sein eigenes bescheuertes Würstchen hinzuzufügen. Aber er kann sich nicht von dem geöffneten Fenster losreißen. Jeden Morgen hat er das Gefühl, sich hinzusetzen und der Welt beim Vergammeln zuzusehen. Von der herrschenden Elite scheint niemand zu begreifen, dass man dringend den Rückwärtsgang einlegen müsste. Im Gegenteil, es sieht so aus, als wären sie geradezu scharf drauf, möglichst schnell in den Abgrund zu rasen.

© 2015 Virginie Despentes
Das Leben des Vernon Subutex 1
2017 Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Verlag: Kiepenheuer&Witsch