Unheimlicher als die Geister aber waren die Geschichten über sie: Kunth gab den beiden Jungen Bücher zu lesen, in denen es um Mönche ging, um offene Gräber, Hände, die aus der Tiefe ragten, in der Unterwelt gebraute Elixiere und Séancen, bei denen Tote zu schreckensstarren Zuhörern sprachen.
Solches kam gerade in Mode und war noch so neu, daß keine Gewohnheit gegen das Grauen half. Das sei nötig, erklärte Kunth, die Begegnung mit dem Dunkel sei Teil des Heranwachsens, wer metaphysische Angst nicht kenne, werde nie ein deutscher Mann. Einmal stießen sie auf eine Geschichte über Aguirre den Wahnsinnigen, der seinem König abgeschworen und sich selbst zum Kaiser ernannt hatte. In einer Alptraumfahrt ohnegleichen waren er und seine Männer den Orinoko entlanggefahren, an dessen Ufern das Unterholz so dicht war, daß man nicht an Land gehen konnte. Vögel schrien in den Sprachen ausgestorbener Völker, und wenn man aufblickte, spiegelte der Himmel Städte, deren Architektur offenbarte, daß ihre Erbauer keine Menschen waren. Noch immer waren kaum Forscher in diese Gegend vorgedrungen, und eine verläßliche Karte gab es nicht.
Aber er werde es tun, sagte der jüngere Bruder. Er werde dorthin reisen.
Sicherlich, antwortete der Altere.
Er meine es ernst!
Das sei ihm klar, sagte der Ältere und rief einen Diener, um Tag und Stunde zu bezeugen. Einmal werde man froh sein, diesen Augenblick fixiert zu haben.Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt, Seite 21
Roman
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