Drommetenrot

„Und manchmal fasst mich eine jähe Angst und treibt mich ans Fenster, es ist mir, als müsse dort oben das furchtbare Licht in ungeheuren Wellen über den Himmel rauschen, und ich kann es nicht fassen, das über mir die Sonne steht, von silbernem Dunst verhüllt, von purpurnen Wolken umdrängt oder einsam in der unendlichen Bläue des Himmels, und rings um mich her, wohin ich auch blicke, die uralten, ewigen Farben, die Farben der irdischen Welt.
Niemals mehr habe ich seit jenem Tag das grauenvolle Drommetenrot gesehen.“

Der Meister des jüngsten Tages, Leo Perutz, 1923, Nachdruck Östereichischer Verlag für Belletristik und Wissenschaft, Linz A. D.

Beat it, Bonesy. Don’t let them catch you.

A moment of weakness, that’s what ist was, a last-gasp move in the vile game of Ego—which was the one game everyone loses, that no one can ever win. He paused for a few moments after that, marveling at the depth of his own bitterness, and then let out a long wheezy laugh, bravely mocking himself and the world he loved so much.
from TIMBUKTU by Paul Auster, © 1999

Gewaltig




„Stundenlang irrte ich ohne Plan umher. Scheu wich ich allen Wegen aus, stahl mich über Felder, duckte mich an den wenigen Höfen vorbei, schnupperte jeden Augenblick die Luft ab nach Geräuschen, die meine gereizten Sinne mir vortäuschten, bis ich zerbrochen, mehr noch von der Spannung als von der Müdigkeit, wie ein gehetztes Tier in einem Holzschlag zum Schlafe niedersank.
Doch der morgendliche Frost trieb mich nach wenigen Stunden wieder auf.
[…]
Mit so viel Geschick den Gast über die Peinlichkeit hinüberzuführen, die Abhängigkeit von fremder Hilfe unvermeidlich entstehen läßt, weiß doch nur, wer selbst einmal auf Gastlichkeit angewiesen war, sagte ich mir.“
Artur Rosenberg: Menschen auf der Straße, Juni – Juli 1940 in Frankreich, erschienen 1946 Wiener Verlag

„Die andere Seite“


Sicher ist es die Phantasie, die meinem Dasein den Stempel aufdrückt, die mich glücklich und traurig macht. Ich erkenne sie fort und fort in mir und außer mir. Und da ich viel geschaut und erlitten habe und am Leben nicht mehr so unbedingt wie einstens hänge, mir im Gegenteil körperliche Müdigkeit und Empfindlichkeit gegen Schmerzen dien Humor immer wieder trüben, erfasse ich auch die Idee des Todes ohne große Besorgnis und es beunruhigt mich nicht allzusehr, ob er mich nach Ansicht derer, die etwas davon zu verstehen vorgeben, dem Nichts oder dem Allbewußtsein oder einer neuen Sonderexistenz zuführt.
Aus der vorangestellten Selbstbiographie des phantastischen Romans „Die andere Seite“ von Alfred Kubin, 2te Auflage 1917 in der Reihe „Galerie der Phantasten“, herausgegeben von Hanns Heinz Ewers. Dieses Werk wurde im Auftrage von Georg Müller Verlag in München von der Buchdruckerei von Mänicke und Jahn in Rudolfstadt gedruckt.

Brothers

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„Es gibt nichts Gehässigeres als Grenzen, nichts Stupideres als Grenzen. Sie sind wie Kanonen, wie Generäle: solange Vernunft, Menschlichkeit und Friede herrscht, spürt man nichts von ihnen und lächelt über sie, – sobald aber Krieg und Wahnsinn ausbricht, werden sie wichtig und heilig. Wie sind sie uns Wanderern in den Kriegsjahren zur Pein und zum Kerker geworden! Der Teufel hole sie!“
S. Fischer / Verlag / Berlin / 1922

Hermann Hesse: Wanderung

Die Himmelfahrt der Galgentoni

Selten habe ich so wüste Nachtlokale gesehen wie die rings um den Prager Gemüsemarkt und Fleischmarkt. [ … ] In vielhundertjährigen Häusern staken diese Kneipen, und jede hatte ihre Geschichte. Unter dem Eichentisch der Schenke „Zur Hölle“, wo immer Betrunkene liegen, lag 1378 Herzog Wenzel von Luxemburg, als Kammerherren eintraten, um ihm den Tod seines Vaters zu melden, des deutschen Kaisers Karl IV. Sie trugen den sinnlos Betrunkenen ins Schloß hinauf und setzten ihn auf den Thron.
Von der größten Zeche, die je im „Grünen Frosch“ gemacht ward, erzählen noch heute Wirt und Stammgäste, als wären sie dabei gewesen. Aber es sind schon 300 Jahre (jetzt eher 400 Jahre) her, seit Scharfrichter Mydlarz hier die zehn Schock Meißner Silberthaler nach dem Tagwerk vertrank, für das er sie verdient hatte: für die Massenhinrichtung der böhmischen Adelsherren.
In der Kaschemme „Bataillon“ gibt es keine Teller, nur Mulden, die in die Tische eingeschnitten sind; in diese Mulden wird aus einem Schlauch die Suppe gespritzt. Die Blechlöffel sind mit Ketten am Tisch befestigt, damit sie der Gast nicht mitnehmen könne.
Hier bezog Dr. Unger, Universitätsdozent für Staatsrecht und Abgeordneter des Landtags, seinen permanenten Aufenthalt, als er erfuhr, daß seine Frau Orgien mit seinen Kollegen feiere. Bevor er sich bewußt zu Tode trank, vermachte er sein Vermögen den neunzig Stammgästen des „Bataillon“. Dafür sollten sie – so stand es im Testament – jeder mit einer Flasche Haferschnaps in der Hand, an seinem Begräbnis teilnehmen, unterwegs auf sein Seelenheil trinken und sein Lieblingslied singen: „Vorbei, vorbei ist alles, vorbei mein Lebensglück …“
Egon Erwin Kisch in Mexico, ca 1941aus „Das tätowierte Portrait“ von Egon Erwin Kisch, © Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig 1987