Entnervter Junggreis (frz.).

»Das ist richtig, Distelkamp, und sehr natürlich. Sieh, ich habe die Frische, die macht’s; auf die Frische kommt es an, in allem. Die Frische gibt einem die Lust, den Eifer, das Interesse, und wo die Frische nicht ist, da ist gar nichts.
Das ärmste Leben, das ein Menschenkind führen kann, ist das des petit crevé*. Lauter Zappeleien; nichts dahinter. 

Hab ich recht, Etienne?«

* Entnervter Junggreis (frz.).


Frau Jenny Treibel oder „Wo sich Herz zum Herzen find’t ist ein Roman Theodor Fontanes. Von Januar bis April 1892 in der Deutschen Rundschau vorabgedruckt, Ende 1892 (mit der Jahreszahl 1893) als Buch ausgeliefert

Er säte Heimweh für’s ganze Leben

Gleich hinter dem Marktplatz trafen sie die Pferde, wie der Mann gesagt hatte. Nicht weniger als drei Tage brauchten sie, bis sie zur Grenze kamen, denn sie mieden die Eisenbahn. Es erwies sich unterwegs, daß der Begleiter Schemarjahs genau Bescheid im Lande wußte. Er gab es zu erkennen, ohne daß ihn Schemarjah gefragt hätte. Auf die fernen Kirchtürme deutete er und nannte die Dörfer, zu denen sie gehörten. Er nannte die Gehöfte und die Güter und die Namen der Gutsbesitzer. Er zweigte oft von der breiten Straße ab und fand sich auf schmalen Wegen in kürzerer Zeit zurecht. Es war, als wollte er Schemarjah noch schnell mit der Heimat vertraut machen, ehe der junge Mann auszog, eine neue zu suchen. Er säte das Heimweh für’s ganze Leben in das Herz Schemarjahs.

Eine Stunde vor Mitternacht kamen sie zur Grenzschenke. Es war eine stille Nacht. Die Schenke stand in ihr als einziges Haus, ein Haus in der Stille der Nacht, stumm, finster, mit abgedichteten Fenstern, hinter denen kein Leben zu ahnen war. Millionen Grillen umzirpten es unaufhörlich, der wispernde Chor der Nacht. Sonst störte sie keine Stimme. Flach war das Land, der gestirnte Horizont zog einen vollendet runden tiefblauen Kreis darum, der nur im Nordosten durch einen hellen Streifen unterbrochen war, wie ein blauer Ring von einem Stück eingefaßten Silber.
Man roch die ferne Feuchtigkeit der Sümpfe, die sich im Westen ausbreiteten und den langsamen Wind, der sie herübertrug. „Eine schöne echte Sommernacht!“ sagte der Bote Kapturaks. Und zum ersten Mal, seitdem sie zusammen waren, ließ er sich herbei, von seinem Geschäft zu sprechen:

„Man kann in so stillen Nächten nicht immer ohne Schwierigkeiten hinüber. Für unsere Unternehmungen sind Regen nützlicher.“ Er warf eine kleine Angst in Schemarjah. Da die Schenke, vor der sie standen, stumm und geschlossen war, hatte Schemarjah nicht an ihre Bedeutung gedacht, bis ihn die Worte des Begleiters an sein Vorhaben erinnerten.
„Gehen wir hinein!‘ sagte er, wie einer, der die Gefahr nicht länger aufschieben will.
,,Brauchst Dich nicht zu eilen, wir werden lange genug warten müssen!“

Er trat dennoch ans Fenster und klopfte leise an den hölzernen Laden. Die Tür öffnete sich und entließ einen breiten Strom gelben Lichts über die nächtliche Erde. Sie traten ein. Hinter der Theke, genau im Lichtkegel einer Hängelampe, stand der Wirt und nickte ihnen zu, auf dem Fußboden hockten ein paar Männer und würfelten. An einem Tisch saß Kapturak mit einem Mann in Wachtmeisteruniform. Niemand sah auf. Man hörte das Klappern der Würfel und das Ticken der Wanduhr. Schemarjah setzte sich. Sein Begleiter bestellte zu trinken. Schemarjah trank einen Schnaps, er wurde heiß, aber ruhig. Sicherheit fühlte er wie noch nie; er wußte, daß er eine der seltenen Stunden erlebte, in denen der Mensch an seinem Schicksal nicht weniger zu formen hat, als die große Gewalt, die es ihm beschert.

Kurz nachdem die Uhr Mitternacht geschlagen hatte, knallte ein Schuß, hart und scharf, mit einem langsam verrinnenden Echo. Kapturak und der Wachtmeister erhoben sich. Es war das verabredete Zeichen, mit dem der Posten zu verstehen gab, daß die nächtliche Kontrolle des Grenzoffiziers vorbei war. Der Wachtmeister verschwand. Kapturak mahnte die Leute zum Aufbruch. Alle erhoben sich träge, schulterten Bündel und Koffer, die Tür ging auf, sie tropften einzeln in die Nacht hinaus und traten den Weg zur Grenze an. Sie versuchten zu singen, irgend jemand verbot es ihnen, es war Kapturaks Stimme. Man wußte nicht, ob sie aus den vorderen Reihen herkam, aus der Mitte, aus der letzten.

Sie schritten also schweigsam durch das dichte Zirpen der Grillen und das tiefe Blau der Nacht.

Nach einer halben Stunde kommandierte ihnen Kapturaks Stimme: Niederlegen! Sie ließen sich auf den taufeuchten Boden fallen, lagen reglos, preßten die klopfenden Herzen gegen die nasse Erde, Abschied der Herzen von der Heimat. Dann befahl man ihnen aufzustehn. Sie kamen an einen seichten breiten Graben, ein Licht blinkte links von ihnen auf, es war das Licht der Wächterhütte. Sie setzten über den Graben. Pflichtgemäß, aber ohne zu zielen, feuerte hinter ihnen der Posten sein Gewehr ab.
„Wir sind draußen!“
rief eine Stimme.
In diesem Augenblick lichtete sich der Himmel im Osten. Die Männer wandten sich um, zur Heimat, über der noch die Nacht zu liegen schien und kehrten sich wieder dem Tag und der Fremde zu.

Einer begann zu singen, alle fielen ein, singend setzten sie sich in Marsch. Nur Schemarjah sang nicht mit. Er dachte an seine nächste Zukunft (er besaß zwei Rubel); an den Morgen zu Haus.
In zwei Stunden erhob sich daheim der Vater, murmelte ein Gebet, räusperte sich, gurgelte, ging zur Schüssel und verspritzte Wasser. Die Mutter blies in den Samowar. Menuchim lallte irgend etwas in den Morgen hinein, Mirjam kämmte weiße Flaumfedern aus ihrem schwarzen Haar. All dies sah Schemarjah so deutlich, wie er es nie gesehn hatte, als er noch zu Hause gewesen war und selbst ein Bestandteil des heimatlichen Morgens. Er hörte kaum den Gesang der andern, nur seine Füße nahmen den Rhythmus auf und marschierten mit.

Eine Stunde später erblickte er die erste fremde Stadt, den blauen Rauch aus den ersten fleißigen Schornsteinen, einen Mann mit einer gelben Armbinde, der die Ankömmlinge in Empfang nahm. Von einer Turmuhr schlug es sechs.

HIOB – Roman eines einfachen Mannes
von Joseph Roth
Copyright 1930 by Gustav Kiepenheuer Verlag AG., Berlin
Druck der Offizin Haag-Drugulin AG. in Leipzig

Strange crime

It was partly the raven colour of the pine-woods; but partly also an indescribable atmosphere almost described in Scott’s great tragedy; the smell of something that died in the eighteenth century; the smell of dank gardens and broken urns, of wrongs that will never now be righted; of something that is none the less incurably sad because it is strangely unreal.

‚“It makes one feel,“ said the philosopher slowly, „such a dammed fool.“

„I know,“ assented the other, „but one often has to choose between feeling a damned fool and being one.“

G. K. CHESTERTON, THE WISDOM OF FATHER BROWN: THE STRANGE CRIME OF JOHN BOULNOIS, BLOOMSBURY BOOKS LONDON